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Wirtschaft

Krieg als Mittel der Politik

9.12.2025

eco.nova: Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist eine Ära zu Ende gegangen. Es war von „Zeitenwende“ und „Epochenbruch“ die Rede. Würden Sie das auch so sehen? FRANZ EDER: Der Krieg ist zurück nach Europa gekommen. Deshalb ist der Begriff „Zeitenwende“ zutreffend. Krieg ist wieder ein Mittel der Politik geworden. In Europa hat man nach dem Zweiten Weltkrieg daran gearbeitet, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit das nicht mehr passiert. Durch Kooperation und wirtschaftlichen und kulturellen Austausch zwischen Staaten. Man hat Strukturen aufgebaut, um gravierende Probleme erst gar nicht entstehen zu lassen, so dass eine Lösung mit kriegerischen Mitteln gar nicht erst in Frage kam. Europa hat das relativ gut gemacht, die „DNA“ des heutigen Europas baut auf diesem Denken auf. Die Etablierung einer europäischen Friedensarchitektur ist der Erfolg der Europäischen Union. Fragen von Krieg und Frieden sind darin gar nicht mehr denkbar.
 
Man hat Europa deshalb auch Naivität vorgeworfen. Das Problem ist, dass es mit Russland einen Akteur gibt, der aufgrund unterschiedlicher Dynamiken und auch des Erfolgs der EU wieder zu militärischen Mitteln greift. Die Idee war ursprünglich, Russland in die europäische Sicherheitsarchitektur einzubinden und es zu unterstützen, innere Strukturen – Demokratie, Stabilität, Wachstum – zu entwickeln, damit dieses aggressive Verhalten nach außen verschwindet.
 
„MIGHT MAKES RIGHT“ – EIN ALTES DENKEN KEHRT ZURÜCK
 
Ging es um eine „Verwestlichung“ Russlands? Das würde ich so nicht sagen. Es ging nie darum, Russland eine andere Kultur aufzuzwingen. Südkorea oder Japan sind auch keine „westlichen“ Staaten – und trotzdem stabile Marktwirtschaften und funktionierende Demokratien. Das russische Narrativ einer versuchten „Verwestlichung“ sollte man nicht wiederholen. Russland verfolgt mittlerweile eine Außenpolitik, deren Wurzeln ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Eine, in der das Ordnungsprinzip auf internationaler Ebene nicht mehr Verregelung heißt, sondern das Recht des Stärkeren gilt.
 
Might makes right. Ja. Russland argumentiert damit, ein Anrecht auf die Kontrolle des umliegenden Auslands und der Staaten zu haben, von denen es umgeben ist.
 
Eine zutiefst imperialistische Ansicht, die auch in der Sowjetunion verbreitet war. Ja, das ist imperialistisches Denken. Man glaubt, den eigenen Einflussraum beherrschen zu können. Wer versucht, sich dort hineinzudrängen, wird gewaltsam zurückgedrängt. Das sehen wir nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Kasachstan, in Belarus. Wenn die Menschen sich frei entscheiden dürfen, wählen sie das Modell der Europäischen Union und nicht das Modell Russlands. Davor hat Russland Angst und deshalb versucht es, die Annäherung an Europa zu unterbinden bzw. dafür zu sorgen, dass politische Akteure in diesen Staaten eine Rolle spielen, die das nicht wollen.
 
FALSCHE ANNAHMEN, NEUES DENKEN
 
Wann ist Ihnen persönlich klar geworden, dass sich der Kreml endgültig aus der europäischen Sicherheitsordnung verabschiedet hat? Offen gesagt habe ich das bis zum Tag der Invasion nicht geglaubt, weil es einfach unvorstellbar war. Man konnte annehmen, dass Russland einfach zu großes ökonomisches Interesse am Westen hat, um sich auf einen Konflikt einzulassen. Russland hat sich mehrfach verkalkuliert: Es ist davon ausgegangen, dass der Krieg schnell gewonnen sein würde. Zweitens war man der Meinung, dass Europa durch seine Rohstoffabhängigkeit keinen Widerstand leisten würde. Beides hat sich als völlig falsch herausgestellt. Europa hat sich – zwar zeitverzögert – von russischer Energie abgekoppelt. Trotz gravierender Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft wird Russland Europa als Energieabnehmer langfristig verlieren. Davon wird Russland nicht profitieren.
 
Welche anderen Konsequenzen erwachsen daraus? In Europa macht man sich Gedanken, wie die eigene Sicherheit allein organisiert werden kann. Europa rüstet auf. Österreich hatte bis vor kurzem ein Landesverteidigungsbudget von 0,7 Prozent des BIP, mit sinkender Tendenz. Mittlerweile geht es in Richtung 1,5 Prozent. Das wäre für NATO-Staaten immer noch zu wenig – für österreichische Verhältnisse ist es hoch. Mit Finnland und Schweden sind vormals blockfreie bzw. non-aligned Staaten binnen kürzester Zeit NATO-Vollmitglieder geworden. Finnland und Schweden bringen große militärische Fähigkeiten in das Bündnis ein. Das sind keine Nasenbohrer. Man geht sogar davon aus, dass Russland momentan einen konventionellen Krieg gegen Finnland nicht gewinnen würde.
 
Das alles spricht dafür, dass der Begriff „Zeitenwende“ absolut angebracht ist. Ja. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben ein neues Denken mit sich gebracht. Europa will – nicht nur auf die militärische Landesverteidigung reduziert – resilienter werden. Die Herausforderungen für die Staaten liegen nicht nur auf der konventionellen militärischen Ebene.
 
RESILIENZ ALS GESAMTGESELLSCHAFTLICHE AUFGABE
 
Es gibt heute vielfältige hybride Bedrohungen, denen sich Europa gegenübersieht. Militärische Antworten sind zu wenig. Nicht nur Russland, sondern auch andere Akteure versuchen, demokratische Staaten durch gezielte Desinformation oder Sabotage zu destabilisieren. Die skandinavischen Staaten sind diesbezüglich schon jetzt gut aufgestellt, weil sie Verteidigung und Resilienz umfassend, als gesamtgesellschaftliches Projekt, verstehen. Das haben wir in Österreich noch keineswegs verstanden. Hier kreisen die Debatten noch darum, ob die Wehrpflicht verlängert werden soll.
 
Das ist allerdings nur eine kleine Komponente von vielen. Resilienz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, zu der jeder Bürger und jede Bürgerin einen Beitrag zu leisten hat – in unterschiedlichster Form. Wir müssen über die Organisation der konventionellen militärischen Verteidigung ebenso nachdenken wie über den Kontext, in dem diese stattfinden soll. Einerseits erwartet sich Österreich, im Rahmen der EU solidarisch verteidigt zu werden, andererseits möchte man selbst nichts zur Verteidigung beitragen. Das ist ein großes Problem. Das Militärische ist aber nur eine Dimension. Der Krisen- und Katastrophenschutz sind weitere. Was macht man bei einem Blackout? Wie sieht es mit dem Katastrophenschutz aus? Da geht es nicht nur um militärische Bedrohungen, sondern um Extremwetterereignisse. Wir müssen uns als Gesellschaft überlegen, wie wir mit den unterschiedlichen Bedrohungen umgehen und auf diese reagieren wollen.
 
Sie betonen die gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Da wird es wohl nicht reichen, wenn nur Männer – so wie derzeit über den Wehr- bzw. Zivildienst – herangezogen werden?  Man wird um die Frage, inwiefern auch Frauen beteiligt werden, nicht herumkommen. Auch sie werden einen Beitrag leisten müssen. Das muss nicht zwangsläufig an der Waffe sein. Das ist nicht zuletzt eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit. Staaten, die gesellschaftlich in Sachen Gleichheit weiter sind, tun sich damit natürlich argumentativ leichter. Verteidigung muss groß gedacht werden.
 
Es gab immer wieder Diskussionen um eine Versicherheitlichung von Materien, die eigentlich nicht primär eine sicherheitspolitische Dimension haben. Wie stehen Sie zu diesem Vorwurf? Ist er durch die gegenwärtige Lage hinfällig geworden? Natürlich ist das eine Form von Versicherheitlichung, die dadurch zu erklären ist, dass es umfassende Herausforderungen und Bedrohungslagen gibt. Sicherheit ist ein wesentlicher Grund, warum Staaten überhaupt entstanden sind. Sicherheit ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, das Staaten erfüllen können, wenn man sie nur dazu befähigt.
 
DAS ENDE DER FRIEDENSDIVIDENDE
 
Die berühmte Formulierung des einflussreichen Militärhistorikers Carl von Clausewitz lautet: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Krieg wird von ihm als politisches Phänomen verstanden. Hat Europa die historischen Lehren zur Abschreckung und Machtprojektion vernachlässigt oder ist das dem großen Erfolg des Friedensprojekts Europa geschuldet? Eher Letzteres. Europa war wohl zu blauäugig, hat global betrachtet zu viele Aufgaben, die zur Ordnung der Welt geführt haben, den USA überlassen. Die Grundidee und das Erfolgsrezept der EU basieren gerade auch auf einem alternativen Ansatz.
 
Wenn wir auf Clausewitz blicken – hat Europa das Denken in Kategorien der Macht verlernt, weil es sich primär als Zivilmacht begriffen hat? Ja. Die Ressourcen wurden überwiegend in Bildung, Ökologie, Menschenrechte, Demokratie und den Wohlfahrtsstaat investiert. Das hat in Europa funktioniert. Europa ist dadurch der mit Abstand lebenswerteste Ort der Welt geworden. Wohin migrieren Menschen? Nicht nach China, nicht nach Russland. Europa gehört zu den Hauptzielen. Das hat mit dem Wohlstand und der – nicht zuletzt sozialen – Sicherheit zu tun. Es gibt aber auf der globalen Bühne Akteure, die durch diesen europäischen Erfolg, die Attraktivität seines Lebensmodells, unter Druck geraten sind. Russland ist einer davon, gleichwohl nicht der einzige. Russland versucht, eine völlig neue Weltordnung herbeizuführen.
 
Chinas Rolle und Position ist in diesem globalen Kräftemessen noch nicht ganz klar. Besteht die Gefahr, dass es zu einer Art Blockbildung zwischen Russland und China kommt? Russland ist nicht auf einer Ebene mit China, das international gleichauf mit den USA die Richtung bestimmt. Russland kann froh sein, China auf seiner Seite zu haben.
 
NEUE WELT(UN)ORDNUNG
 
Ist diese neue Weltordnung wieder bipolar, wie es im Kalten Krieg mit den USA und der Sowjetunion gewesen ist, nur dass eben China an deren Stelle getreten ist? Es ist viel komplexer. Die USA sehen China als großen Herausforderer und treten gegenwärtig paradoxerweise international für eine Ordnung ein, die den eigenen Interessen zuwiderläuft. Das ist fast pervers. Donald Trump macht eine Außenpolitik, die sich in ihren Grundzügen gar nicht allzu sehr von jener Russlands unterscheidet. Auch Trump glaubt an Einflusssphären, in denen der Stärkere mit dem Schwächeren verfahren kann, wie es ihm beliebt. Die USA und Russland betreiben gewissermaßen eine rechtspopulistische Außenpolitik, mit Skepsis gegenüber der Globalisierung und liberalen Ansätzen.
 
Liberales Gedankengut gilt gleich als „woke“. Ja, das propagieren sowohl die USA als auch Russland. Wir finden hingegen auch in Europa solche Haltungen, etwa in Ungarn mit Viktor Orbán. Auch Herbert Kickl würde wohl eine ähnliche Außenpolitik wie Trump und Orban verfolgen. Dabei ist gerade für Kleinstaaten eine Abkehr vom liberalen Internationalismus das Schlimmste. Kleinstaaten profitieren nämlich überproportional von einer Verregelung des internationalen Systems. Diese Weltordnung bevorzugt Kleinstaaten, sie schützt gleichsam ihre Existenz.
 
ABSCHRECKUNG, BITTE!
 
Europa muss sich wieder ernsthaft mit Abschreckung beschäftigen und erstmals wohl auch damit, wie diese auch ohne die Hilfe der USA wirksam sein kann? In Artikel 42 Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union ist der Bündnisfall definiert: Ein Angriff auf einen Mitgliedstaat führt dazu, dass alle anderen Mitglieder zur Hilfe kommen müssen. Es braucht eine Klärung, wie man diese Klausel mit Leben füllt. Die Mitgliedsländer müssen Verteidigung als kollektive, nicht individuelle Aufgabe begreifen. Das gilt auch für die Rüstungsindustrien, wo jeder Staat noch immer zu sehr sein eigenes Süppchen kocht.
 
Gerade in der Rüstungsindustrie und Beschaffung gäbe es große Synergien. Ja. Es braucht nicht 27 einzelne Armeen, die über alle Fähigkeiten verfügen müssen. Es braucht mehr Zusammenarbeit. Daran wird kein Weg vorbeiführen, weil das effektiver und ressourcenschonender ist. Europa hätte das Potenzial, jeden Gegner militärisch abzuschrecken. Wirksame Abschreckung funktioniert indes nur gemeinsam auf europäischer Ebene.
 
RUNTER VOM TRITTBRETT
 
In der EU ist die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) als zentrale Säule definiert. Sie wurde in den letzten Jahrzehnten vernachlässigt. Ist mit der neuen Situation Bewegung hineingekommen? Da bewegt sich permanent etwas. Die EU ist heute viel weiter als vor 20 Jahren, wenn auch noch nicht so weit, wie man gerne wäre. Seit einigen Jahren gibt es einen gemeinsamen Europäischen Auswärtigen Dienst, es entstehen immer mehr gemeinschaftliche Strukturen, die Koordination nimmt zu. Die Geschwindigkeit der europäischen Integration war immer je nach Politikbereich unterschiedlich. Bei der GASP ging es in der Vergangenheit vielleicht auch deshalb etwas langsamer, weil sie den Kern der Staatlichkeit berührt. Die Richtung stimmt aber.
 
Donald Trump ist nicht der erste US-Präsident, der den Europäern sicherheitspolitische Trittbrettfahrerei vorwirft. Wie gerechtfertigt ist dieser Vorwurf historisch? Er ist natürlich gerechtfertigt. Die Europäer haben ihre Verteidigungsausgaben nach dem Ende des Kalten Krieges massiv reduziert – die sogenannte Friedensdividende. Sie wurde in die Gesellschaft und den Wohlfahrtsstaat investiert. Die Welt war nach dem Kalten Krieg aber nicht befriedet, die Kosten wurden den USA umgehängt.
 
Die USA haben die Rolle der Weltpolizei nicht aus Altruismus übernommen, sondern aus handfestem Eigeninteresse. Die USA haben von der von ihr garantierten Weltordnung profitiert, und die Europäer haben es sich unter diesem Schutzschirm gutgehen lassen. Die Herausforderungen der USA verschieben sich immer weiter nach Asien, nach Afrika und in den Nahen und Mittleren Osten. Deshalb werden auch Ressourcen aus Europa abgezogen und anderswo eingesetzt. Das ist keine Überraschung, schon unter Obama wurde der „Pivot to Asia“ als strategische Zielsetzung formuliert. Europa hat genügend Ressourcen, um seinerseits eine respektable Force zu sein.
 
Wo sehen Sie die größte Fähigkeitslücke? In der Force Projection bzw. Machtprojektion. Europa ist anders als die USA nicht in der Lage, seine Truppen schnell an fast jeden beliebigen Punkt zu verschieben.
 
NATO UND NEUTRALITÄT
 
Die NATO war in den Nullerjahren in einer Sinnkrise. Es gab ein Bündnis, aber keine Mission. Heute stellt niemand mehr die Frage nach ihrer Relevanz. Wird sie im Bündnisfall tatsächlich liefern können – militärisch wie politisch? Die NATO kann liefern und sie wird auch liefern. Dafür ist sie vorbereitet. Auf europäischer Ebene will man die NATO bewusst stärken, im Kontext der Europäischen Union geht es dagegen eher darum, die industriellen Grundlagen für die Rüstungsindustrie vorzuhalten. Für das Militärische ist die NATO zuständig, für das Politische und Ökonomische die EU. Diese Arbeitsteilung ist sinnvoll, kann für die Nicht-NATO-Länder in der EU, dazu gehört Österreich, allerdings zum Problem werden. Die europäischen NATO-Staaten können und wollen, und auch in den USA wird man zur Auffassung gelangen, dass man in einem Bündnis stärker ist als ohne. Bei Trump ist das schwer einzuschätzen, aber es wird auch eine Zeit nach ihm kommen.
 
Schweden und Finnland haben ihre Neutralität aufgegeben und sind der NATO beigetreten. Sollte sich Österreich daran ein Beispiel nehmen? Dort hat bereits vor einigen Jahren ein Umdenken eingesetzt, von einem reinen Neutralitätsdenken hin zu einer allianzfreien Einstellung. Im Unterschied zu Österreich hat man Diskussionen zugelassen, auch wenn es noch keine Mehrheiten in der Bevölkerung gab. In Österreich wird nicht einmal darüber diskutiert. Das halte ich für falsch! Eine mündige Gesellschaft braucht – angeleitet von der Politik – Diskussionsprozesse darüber, wie Sicherheit organisiert werden sollte. Die Politik hat Angst davor, diese Frage anzugehen. Parteien wie die FPÖ warten nur darauf, sie politisch auszuschlachten. Die SPÖ ist immer noch in der Nostalgie der 1970er-Jahre gefangen, wo man unter Kreisky als neutrales Österreich auf dem Parkett der internationalen Diplomatie jemand gewesen ist. Das geht heute vollkommen an der Realität vorbei. Die ÖVP weiß nicht, was sie will. Realpolitisch ist es heute so, dass wir im Rahmen der EU jedem europäischen Staat – auch militärisch – zur Hilfe kommen können, wenn er angegriffen wird. Die meisten Menschen wissen das nicht. Die Neutralität ist – wenn es den politischen Willen dazu gibt – in diesem Punkt bereits ausgehebelt.
 
Warum wird die Neutralität nicht zur Diskussion gestellt? Fühlt man sich als neutraler Staat unangreifbar? Nein! Das ist ja der Witz an der Sache. Was wir erforscht haben: Die Neutralität ist ganz tief in der Identität der meisten Österreicher verankert. Die Frage, ob die Neutralität auch vor militärischer Aggression schützt, verneint die Mehrheit der Menschen. Sie wissen, die Neutralität schützt uns nicht. Sie ist jedoch Teil unserer Identität. Die Menschen sind nicht dumm! Wenn die Politik es nicht schafft, das Für und Wider der Neutralität klar zu benennen, wird es auch für die Bevölkerung schwer, sich zu positionieren und die eigene Haltung zu wandeln. Wir brauchen dringend eine ganz nüchterne Diskussion über die Neutralität.
 
PATTSTELLUNG
 
Genau genommen hat der Krieg in der Ukraine bereits 2014 begonnen. Warum haben so viele Expert*innen, Politiker*innen und politische Beobachter Putins Russland über Jahre falsch eingeschätzt? Man konnte nicht glauben, dass sich Russland so sehr selbst beschädigen würde. Russland hat nicht geglaubt, dass die Ukraine, aber auch Europa und die USA, so widerstandsfähig und -willig sind. Das hat dazu geführt, dass es heute eine Pattstellung gibt, in der keine Seite mehr aufhören kann.
 
Russland hat auf Kriegswirtschaft umgestellt, das Putin-Regime kann sich ein Kriegsende gar nicht leisten. Ja. Wenn Putin damit durchkommt, wäre das für andere autoritäre Staaten ein klares Signal, dass mit kriegerischen Mitteln Politik gemacht werden kann. Das kann sich wiederum Europa nicht leisten. Bis zum Tag der Invasion hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass Russland so weit gehen würde. Unmittelbar danach bin ich davon ausgegangen, dass der Krieg endet wie in Georgien. Die Ukraine wurde unter- und Russland überschätzt.
 
WEHRHAFTE DEMOKRATIE
 
Autoritäre Kräfte sind weltweit am Vormarsch. Was braucht es, um eine Demokratie umfassend wehrhaft zu machen – institutionell, gesellschaftlich und politisch? Demokratien beziehen ihre Legitimation daraus, den Menschen mittel- und langfristig zu dienen. Grundsätzlich lebt jeder Mensch lieber selbstbestimmt in einer freien Welt mit freier Meinungsäußerung. Wenn die Demokratien es nicht mehr schaffen, einen gewissen Lebensstandard und Wohlstand zu garantieren, werden sie zunehmend in Frage gestellt. Krisenhafte Entwicklungen bringen die Demokratie unter Druck und wecken die Sehnsüchte nach dem „starken Mann“. Das ist brandgefährlich. Die Demokratie muss liefern. Den Populisten, die von links wie rechts kommen, geht es nur um Macht und Machterhalt. Die große Frage ist: Wie gehen wir als demokratische Gesellschaft mit gewaltigen Herausforderungen wie dem Klimawandel und der Frage der sozialen Gerechtigkeit um? Werden darauf konsensuelle Lösungen gefunden, hat die Demokratie eine Zukunft.
 
Europa scheint global zwar an Bedeutung und Einfluss zu verlieren, verfügt aber über deutlich stärkere wirtschaftliche und militärische Ressourcen als Russland. Warum fürchten wir uns dennoch vor Putins Russland? Weil man sich nicht länger sicher sein kann, dass Russland nicht mit militärischen Mitteln agiert. So ein Konflikt verursacht immer Kosten und führt zu Verlusten auf beiden Seiten. Das Modell Europas als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird durch das konträre Modell Russlands in seinen Grundfesten erschüttert. Das erzeugt zu Recht Angst.
 
Der Politologe Herfried Münkler hat mit seiner These von der postheroischen Gesellschaft, die sich von der Idee des heldenhaften Opfers im Krieg abgewendet hat und stattdessen Krieg als eine polizeiliche Aktion versteht, mediale Aufmerksamkeit bekommen. Was halten Sie davon? Diese These ist eine Steilvorlage für die Medien. Sie ist griffig und klingt zunächst einmal bedeutend. Wissenschaftlich steht sie auf tönernen Beinen. Wir haben uns das angesehen: Die Staaten in Europa, die den höchsten Wehrwillen haben, sind laut Münklers Definition gerade die, die am meisten „postheroisch“ und verweichlicht sind – die skandinavischen Staaten. Dort, wo es dagegen den größten Machismo gibt, ist der Wille, für die Landesverteidigung zur Waffe zu greifen, am geringsten. In Österreich sind die formal höher Gebildeten – und damit eher Einkommensstarken – die Kohorte, die am ehesten zur Waffe greifen würde. Bei den ökonomisch schlechter gestellten Menschen ist diese Bereitschaft wesentlich geringer. Die sagen: „Was tut der Staat für mich?“ Die These von der postheroischen Gesellschaft ist Unsinn.
 
Kommen wir noch einmal zurück zur Zeitenwende. Wie geht es nun weiter? Wir müssen uns wieder bewusst machen, dass Freiheit keineswegs ein selbstverständlicher Zustand ist. Unser liberaler, demokratischer Gesellschaftsentwurf wird von außen und innen zunehmend in Frage gestellt. Die Rahmenbedingungen werden ungünstiger. Ich bleibe jedoch Optimist und glaube, dass wir am Ende des Tages in einer stärker verregelten Welt leben werden. Aus einer ganz einfachen Notwendigkeit heraus: Der Klimawandel macht keine Ausnahmen, ganz gleich ob man autoritär oder demokratisch ist. Er ist eine gigantische Herausforderung, die nur gemeinsam bewältigt werden kann.
 
Interview: Marian Kröll
Fotos: Andreas Friedle

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