Der Arbeitsmarkt hat ein Problem. Nicht so sehr, was die Arbeitslosenzahlen betrifft, sondern eher im Gegenteil. Fachkräfte und mittlerweile Mitarbeiter aller Bereiche werden zusehends zur Mangelware. Das liegt unter anderem daran, dass sich die Baby-boomer-Generation zwischenzeitlich dem pensionsfähigen Alter nähert und der demografische Wandel dafür sorgt, dass weniger junge Menschen nachkommen. Das liegt auch daran, dass viele Nicht-Österreicher während der Pandemie in ihre Heimatländer zurückgekehrt sind und aus vielerleiGründen nicht mehr wiederkommen. Außer-dem haben die letzten Jahre bei so manchemAngestellten zu einem Umdenken geführt –viele schulen um (und befinden sich derzeit in diesem Prozess, sodass sie dem Arbeitsmarkt aktuell nicht zur Verfügung stehen),haben sich selbständig gemacht (weil sie erkannt haben, dass man seine beruflichenTräume irgendwann verwirklichen muss, wenn es nicht zu spät dafür sein soll) oder haben ihre Arbeitsstunden reduziert. DerFachkräftemangel ist aber auch ein Fehler des (Bildungs-)Systems. Österreich ist nach wie vor ein Land der Akademiker, die Lehre hat noch immer einveritables Imageproblem. Viele Eltern versuchen, ihre Kinder in Richtung höhere Schule und Universität zu lenken, weil ihrer Meinung nach eine Lehre nur jene absolvieren, die für eine weiterführende Schule zu doof sind. Was natürlich Quatsch ist. Der Fachkräftemangel ist ein Stück weit also auch dasProdukt der Überschätzung akademischerAbschlüsse und der (sozialen) Geringschätzung von Lehrberufen. Hinzu kommt, dass viele Lehrherren das allgemein gängige Bild, der Bildungsgrad von Lehrlingen sei unter durchschnittlich, aus ihren Erfahrungen heraus scheinbar bestätigen. Vor allem rund um die Jahrtausendwende war es hierzulande ein echtesProblem, Ausbildungsstätten für junge Menschen zu finden. Heute ist das zwar anders, damals hatte es jedoch vor allem damit zutun, dass der Kündigungsschutz von Lehrlingen ausgesprochen hoch war und Lehr-betriebe das Gefühl hatten, einen untauglichen Lehrling vor Ablauf der Lehrzeit nichtmehr loszuwerden und ihn quasi drei Jahrelang mitschleppen zu müssen. Das hat dazu geführt, dass der Paragraf 15 des Berufsausbildungsgesetzes, der sich mit der vorzeitigen Auflösung von Lehrlingsverhältnissen beschäftigt, im Jahr 2008 novelliert wurde.Damit hat man Arbeitgebern die Möglichkeit gegeben, Lehrlinge unter bestimmtenVoraussetzungen vorzeitig zu kündigen –unter der Bedingung, dass vorher eine Mediation durchgeführt wird. Gebrauch wird davon eher selten gemacht, weil es erstens die wenigsten wissen und zweitens die Fristen derart kompliziert gelegt wurden, dass der Durchblick schwerfällt. Barbara Filz-wieser-Galle hat den UniversitätslehrgangMediation & Konfliktmanagement an derUMIT absolviert und ihre Masterarbeit zumThema „Nutzen und Grenzen der Lehrlingsmediation nach § 15a BAG“ verfasst. Sie beschäftigt sich darin jedoch nicht nur mit demGesetz an sich, sondern in der Folge auch stark mit den Bedürfnissen von Lehrlingen und welche Rolle den Ausbildungsbetrieben dabei zukommt.
AUSBILDUNGSBETRIEBE IN DER PFLICHT
Barbara Filzwieser-Galle verortet das größteKonfliktpotenzial zwischen Lehrherr undLehrling vor allem in mangelnder Kommunikation und unrealistischen Erwartungen.„Jugendliche sind mit den unterschiedlichsten Themen konfrontiert, deren zentrale Frage ist: Was mache ich aus meinem Leben? Sie sind gerade erst dabei, sich selbst und ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und sollen bereits eine richtungsweisende Entscheidung treffen. In dieser Phase werden sie stark vom Elternhaus und vom sozialenUmfeld geprägt und treffen oft Entscheidungen, um nach außen hin zu gefallen, weil sie noch gar nicht wissen (können), was sie selbst wirklich wollen“, sagt Filzwieser-Galle. Das kann in der Tat dazu führen, dass sie in ihrem Lehrberuf unglücklich und sohin auch – unbewusst – unmotiviert sind. Paragraph 15a ist dahingehend nicht nur im Sinne der Lehrbetriebe verabschiedet worden, um sich leichter von einem Lehrling trennen zu können, sondern auch für denLehrling selbst. Eine geregelte Lehrvertragsauflösung kann dazu führen, dass Jugendliche, die sich in einer Lehrstelle unwohl fühlen oder für den spezifischen Beruf ungeeignet sind, dem Arbeitsmarkt schneller wieder zugeführt werden können – in Formeiner für ihn besser geeigneten Lehrstelle.Der Großteil vorzeitig beendeter Verhältnis-se ist also nicht gleichzusetzen mit einem gänzlichen Hinschmeißen der Lehre, was vielen Jugendlichen gerne als unstetes Verhalten vorgeworfen wird, sondern eine ArtUmorientierung. Etwas, das im Übrigen im Arbeitsleben etwas völlig Normales ist. Die meisten Jugendlichen haben eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie es in ihremLeben beruflich weitergehen soll, nur wenige beenden ohne Perspektive von sich aus ein Lehrverhältnis. In der Regel haben sie folglich auch keine Probleme, sich bald wie-der in eine neue Lehrstelle zu integrieren. Und ja, Jugendliche sind eine spezielleSpezies. Ein junger Mensch zu sein, ist heute vielleicht sogar noch komplizierter, als es das früher ohnehin schon war. Social Media, die Mediennutzung im Allgemeinen, düste-re Zukunftsszenarien, eine Arbeitswelt, in der viele Berufsbilder verschwinden und neue aufpoppen ... das alles macht etwas mit den jungen Menschen. Auch das Reiben anAutoritäten ist eine normale Reaktion, um seinen eigenen Weg zu finden. „Die Jugendlichen sind mit knapp 15 Jahren noch voll in ihren Entwicklungsaufgaben gefangen und sollen sich so schnell wie möglich aus den Strukturen der Regelschule befreien, um dynamisch, motiviert, flexibel und vollTatendrang im Lehrberuf ihre Berufung zu finden. Lehrlinge befinden sich im Wachstum, sie kämpfen mit Hormonen, haben keine Ahnung, wer sie wirklich sind, und stellen sich damit der Arbeitswelt. Oft sind sie körperlich und geistig überfordert. Generationskonflikte sind vorprogrammiert, denn auf die Bedürfnisse eines Jugendlichen wird während der Ausbildung meist nur wenig bis gar nicht Rücksicht genommen“, schreibt Filzwieser-Galle in ihrer Arbeit und nimmt damit die Ausbildungsbetriebe vermehrt in die Pflicht. Kurzum: Die Erwartungshaltung an Jugendliche ist seitens der Lehrbetriebe manchmal freiheraus zu hoch. Das hat weniger damit zu tun, dass die Jugend zu faul ist, Soll und Haben passen einfach (noch)nicht zusammen.
In der Schule ist es selbstverständlich, junge Menschen zu lehren, weil man davon ausgeht, dass die Schüler das meiste von dem, was ihnen dort beigebracht wird, noch nicht wissen. In der Lehre werden die jungen Menschen vielfach bereits als vollwertige Mitarbeiter gesehen. Das sind sie nicht.Auch sie sind Lernende. Und Lernen brauchtRuhe, Fokussierung und ein geschütztes Umfeld. Möchte man (jungen) Menschen etwas beibringen und will, dass sie es verstehen, braucht es Geduld und Zeit. Die hat man imArbeitsalltag selten. Natürlich kommt man auch mit Rasanz ans Ziel, doch viele Zwischenschritte gehen dabei verloren. Wenn man mit einem Zug mit 200 km/h durch dieLandschaft fährt, sieht man zwar das großeGanze, doch die Details erkennt man nur, wenn man sich Zeit nimmt. Das funktioniert in großen Betrieben naturgemäß besser als in Klein- und Mittelunternehmen (KMU), in denen der Unternehmer oft Geschäftsführer und Lehrlingsausbilder in Personalunion ist. KMU stehen indes vor einer weiterenProblematik, die durchaus zur subjektivenWahrnehmung vermehrt unvermögenderLehrlinge beitragen kann. Das betrifft nicht nur Lehrlinge, sondern Fachkräfte ganz generell: Wenn Studenten während ihres Studiums eine gute Performance liefern, werden sie von ihren Professoren bereits während ihrer Zeit an der Universität an internationale Konzerne wegempfohlen. Sie kommen also von vornherein gar nicht auf den regionalen Arbeitsmarkt. Dann gibt es jene mitEntwicklungspotenzial, das meist von größeren Konzernen erkannt und gefördert wird.KMU haben also das Problem, dass ihnen die besten Köpfe vor der Nase weggeschnappt werden. Topunternehmen tun alles dafür, um gute Leute zu gewinnen, und der Klein-und Mittelstand steht vor einem leergefegtenMarkt. Mit Lehrlingen ist das ähnlich. GroßeUnternehmen werben aktiv für sich und bieten jungen Menschen attraktive Lehrmöglichkeiten und Berufsfelder. Sie verfügen übermoderne Lehreinrichtungen, -methoden und eigene Lehrbeauftragte und sind für die HighPotentials von morgen attraktiver als ein kleiner Handwerksbetrieb. Das Ergebnis: AuchLehrlinge mit hohem Potenzial landen – wie ausgebildete Fachkräfte – eher bei großenBetrieben, was bei KMU-Geschäftsführern den Eindruck erwecken kann, das Niveau der Arbeitskräfte sinke generell.
ZEITEN ÄNDERN DICH
Die Jugend von heute mit jener „von früher“zu vergleichen, hinkt übrigens. Zeiten ändern sich. Sozialisationen ändern sich. Und auch der Zugang zur Arbeit. Wenn jungeMenschen heute Wert auf die viel zitierteWork-Life-Balance legen, hat das weniger mit Trägheit zu tun, sondern damit, dass sie teilweise an ihren eigenen Eltern gesehen haben, was passiert, wenn man zu sehr für seineArbeit brennt. Nämlich, dass man ausbrennt.Schaffen es Topmanager und Führungskräfte, willens sind, ihr Arbeits- und Privatleben in Balance zuhalten, ernten sie dafür Lob, bei Jugendlichen nennt man es Faulheit ... Studien bestätigen, dass junge Menschen durchaus überdurchschnittlich viel Leistung zu erbringen, wenn das Umfeld passt. Auch bei denJungen geht es neben dem Gehalt vermehrt um Wertschätzung. Sie möchten das Gefühl haben, ernst genommen zu werden und sich entwickeln können. Das hat sich in unsererUmfrage (siehe nachfolgende Seite) bestätigt.Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten und betriebliche Vorsorge rangieren bei den Zusatzleistungen weit vor dem Firmenwagen, Firmenhandy oder der Kantine. Das erfordert bei manchen Betrieben einen Paradigmenwechsel. „Der oder die Ausbilder*in sind oft überfordert, wenn neue Werte mit ihren eigenen, seit Jahren funktionierenden Werten kollidieren und sie sich eingestehen müssen, dass Veränderungen im Raum stehen und althergebrachte Methoden nicht mehr funktionieren“, resümiert Filzwieser-Galle, die auch dafür plädiert, die Entscheidung über den beruflichen Weg generell ein wenig nach hinten zu verschieben: „Die Phase, in der sich der Jugendliche aus biologischen Gründen befindet, ist die denkbar ungünstigste, um eine Berufsentscheidung zu treffen. MeinerMeinung nach würde es Sinn machen, dieGrundschule auf sechs Jahre auszuweiten und genügend Zeit fürs Kindsein zu lassen.Dann würde sich auch der Beginn der Lehr-zeit um zwei Jahre nach hinten verschieben und damit den Jugendlichen mehr Zeit verschaffen – für alles.“
Text: Marina Bernardi