Der Tiroler Thomas Müller ist ein international renommierter Kriminalpsychologe und Profiler. Er wurde durch die Aufklärung von Kapitalverbrechen wie Bombenanschlägen und Erpressungen bekannt. In Hochsicherheitstrakten interviewte Müller unter anderem zahlreiche Serienmörder, um die Erfahrungswelten und Abgründe von destruktiv agierenden Menschen verstehen zu lernen, beschreibt es der Klappentext zu seinem Buch „Bestie Mensch“. Am BFI in Innsbruck sprach er zum Thema „Workspace Violence“, also Arbeitsplatzkriminalität. Und auch wenn es höchst unwahrscheinlich ist, an seinem Arbeitsplatz Opfer eines Serienmörders zu werden, so ist die Wahrscheinlichkeit von generellem destruktivem Verhalten ebendort weit weniger gering. Müllers Vortrag war nicht nur einer über kriminelle Aktivitäten am Arbeitsplatz, sondern vielmehr einer über die Vermeidung derselben. Das wiederum hat viel mit Psychologie zu tun. Und Führungsqualitäten.
Arbeitsplatzkriminalität ist ein weiter Begriff. „Überall wo Leute einer Arbeit nachgehen und dort etwas passiert, spricht man von Arbeitsplatzkriminalität”, fasst Thomas Müller zusammen. Wer sich am Arbeitsplatz destruktiv verhalten wird, ist indes kaum zu erahnen. Es kann jeder sein, so Müller: „Leute, die (komplexe) Verbrechen begehen, haben kein Stigma, an dem man sie erkennt. Ich habe in meiner beruflichen Karriere als Kriminalpsychologe keinen Satz öfter gehört als: Doch nicht der!“ Im Prinzip sagt dies nichts anderes aus, als dass wir vollkommen unfähig sind, festzustellen, was wir einem anderen zutrauen können. Oder nicht.
Warum jemand in eine Situation kommt, sich auf öffentlichen Plätzen oder am Arbeitsplatz destruktiv zu verhalten, ist schwer zu sagen. Eine Kurzschlusshandlung ist es selten. „Kaum jemand wacht in der Früh auf und sagt: Heute ist ein schlechter Tag, deshalb greife ich in die Portokasse, zerstöre einen Computer oder stehle systemrelevante Daten. Destruktives Verhalten ist in der Regel das Ergebnis einer langsamen Entwicklung, die klein anfängt und sich hochsteigert“, beschreibt der Profiler. „Destruktives Verhalten hat stets eine Vorlaufzeit. Wichtig für die Prävention ist, zu verstehen, was in dieser Zeit passiert. Nur wenn man die Dynamik von destruktivem Verhalten am Arbeitsplatz versteht, kann man dagegenwirken.“
Nix is fix
Wir Menschen mögen es, zu (ver)messen. Umsätze, Unternehmensziele, Sportergebnisse, die Zeit, uns selbst. Wir leben in einem Zeitalter von Zahlen und Daten, die uns vermeintlich objektiv zeigen, ob wir erfolgreich sind. Doch wie misst man Loyalität? Oder Fleiß? Oder Resilienz? „Wir müssen uns auch darüber Gedanken machen, wie wir Verhalten messen können. Wie lassen sich bestimmte Verhaltensbereiche vernünftig einordnen?”, fragt Müller. „Hier geht es um Wahrscheinlichkeiten“, gibt er die Antwort. „Fix is nix. Und das ist das Problem.“
Durch zahlreiche Gespräche mit Täter*innen hat sich Thomas Müller ein breites Wissen über die Hintergründe und Motive destruktiven Verhaltens angeeignet und daraus Kriterien abgeleitet, aus denen sich mit einer recht hohen Wahrscheinlichkeit ableiten lässt, dass „etwas passieren wird“. Die Quintessenz daraus: „Ich bin überzeugt, dass jeder von uns in eine Situation kommen kann, in der er sagt: Ich kann nicht mehr.“ Die Frage ist, wie man mit diesem Gefühl umgeht.
Prognosen sind per se schwierig, menschliches Verhalten zu prognostizieren, noch viel mehr. Dennoch gibt es Anzeichen, die das Umfeld hellhörig machen sollten. Mitarbeiterführung bedeutet deshalb, aufmerksam zu sein, hinzuhören und hinzuschauen, um Veränderungen auch zu bemerken. Für Thomas Müller stehen dabei drei Worte ganz oben: Wertschätzung, Interesse, Respekt. WIR. „Wenn Sie regelmäßig und mit ehrlichem Interesse durch Ihre Büroräumlichkeiten spazieren und sich kundig machen, wie es den Leuten geht, ist das die einfachste und kostengünstigste Sicherheitsmaßnahme. Kein Chef kann alle Probleme seiner Mitarbeiter*innen lösen oder sämtliche Erwartungen erfüllen. Aber wenn man die Fähigkeit besitzt, den Kolleg*innen Wertschätzung entgegenzubringen, ist schon viel getan. Arbeitet man aktiv mit seinen Leuten, kann man Arbeitsplatzkriminalität am besten vermeiden.“
Wie aber lässt sich Verhalten messen und abschätzen? Es wäre schön, könnte man sagen, jemand ist zu 40 Zentimetern gefährlich oder Kollegin X wird zu 3,2 Kilogramm ein destruktives Verhalten an den Tag legen. In der Geisteswissenschaft lässt sich schwerlich absolut messen. Man kann jedoch vergleichen. Man vergleicht das Verhalten einer Person mit dem Verhalten vieler anderer. Richtig vieler wäre gut. Thomas Müller hat das getan. „Nehmen Sie sich bei der Beurteilung anderer unbedingt selbst aus der Bedeutung“, sagt er. „Es ist nicht wichtig, wie man selbst denken oder reagieren würde. Man selbst ist völlig unerheblich, es geht darum, sein Gegenüber zu erkennen.“ Müller hat viele Menschen begleitet, die Täter waren. Und nicht nur er hat das getan. Auf diese Weise entstand eine ziemlich beeindruckende Vergleichsgröße, aus der sich verschiedene Gemeinsamkeiten destruktiv agierender Menschen herauskristallisiert haben.
Selbstwert und Wertschätzung
Menschliches Verhalten ist stets im Kontext der Zeit zu betrachten. Jeder Mensch zeigt hin und wieder ungünstige Verhaltensmuster – das ist nichts Ungewöhnliches. Kritisch wird es jedoch, wenn mehrere dieser Faktoren über einen längeren Zeitraum hinweg zusammentreffen. „Wir alle bewegen uns in einer Art Sinuskurve – es gibt gute und schlechte Tage. Das ist völlig normal“, erklärt Müller. Doch woran erkennt man jemanden, dessen Verhalten tatsächlich destruktive Züge annimmt? „Dafür gibt es ein Zauberwort und das heißt Selbstwertgefühl. Das ist die Maßzahl dessen, was sich jeder von uns regelmäßig fragt: Was ist mein Wert? Wie wichtig bin ich – in Zusammenhang und Interaktion mit anderen Leuten?“ Daraus leitet sich die wahrscheinlich wichtigste Frage ab: Was ist nötig, um ehrlich zu sagen: Es geht mir gut. Auch wenn die Sinuskurve gerade nach unten geht.
Unseren Selbstwert beziehen wir einerseits aus unserer beruflichen Tätigkeit, andererseits aus dem Zusammensein mit anderen Menschen außerhalb unseres Berufslebens und – ganz wichtig! – aus der Zeit ausschließlich mit uns selbst. Neben der viel zitierten Work-Life-Balance braucht es einen weiteren entscheidenden Baustein: Me. Der beinhaltet all jene Entscheidungen, die man nur für sich trifft, ohne an andere Menschen zu denken. Sich die Zeit für ein gutes Buch zu nehmen, für einen Spaziergang. Nicht jeder der drei Bereiche wird genau ein Drittel unseres Lebens einnehmen, doch es braucht eine gesunde Aufteilung. Man kann im Privatleben nicht auf Dauer kompensieren, was einem Schlechtes im Berufsleben widerfährt. Und umgekehrt. Ungut wird es dann, wenn einer der drei Bereiche größer wird als die Summe der beiden anderen zusammen. „Zieht man den Großteil seines Selbstwertes aus seinem beruflichen Umfeld, bleibt wenig Zeit für anderes. Das ist per se nicht gefährlich, passiert jedoch genau in diesem Bereich etwas Unvorhergesehenes, Gravierendes, bricht das eigene Selbstwertsystem zusammen“, so Müller. Einfach, weil nicht genug Ressourcen aus Säule zwei und drei vorhanden sind. Die Lastenverteilung auf die drei Säulen ist eine sehr persönliche Entscheidung. Stellen Sie sich also zwischendurch selbst die Frage, wie die Ihre ausschaut.
Die Reaktionen von Menschen, deren Selbstwertgefühl massiv angeknackst ist, sind höchst unterschiedlich. „Statistisch am häufigsten ist: Wir legen uns eine veritable Neurose zu“, beobachtet Müller. Wir gehen zum Beispiel permanent shoppen. Es geht mir nicht gut, also schmeichle ich mir. Das tut außer dem eigenen Konto zwar niemandem weh, ist jedoch ein erstes, recht klares Anzeichen. Die zweithäufigste Reaktion ist laut Müller die Entwicklung eines Suchtverhaltens. War es in den 1960er- oder 1970er-Jahren noch der Alkohol, war es danach das Näschen Koks auf den berüchtigten After-Work-Partys. Seit etwa 15 Jahren sieht Müller einen Trend zur leichtfertigen Einnahme von angstlösenden Medikamenten, so genannten Benzodiazepinen, kurz Benzos. Das Problem: Benzodiazepine lösen nicht nur hemmende Ängste, sondern verschieben auch moralische Instanzen. „Das kann man nicht machen“, gibt’s schlichtweg nicht mehr. Das kann auch beim Arbeiten zum Problem werden. „Sollten Sie also beobachten, dass sich jemand innerhalb von kurzer Zeit um 180 Grad verändert, denken Sie bitte auch an die Indikation von angstlösenden Medikamenten”, rät der Experte.
In Fällen von Neurosen oder Süchten schadet man in erster Linie sich selbst, gefährlich wird es dann, wenn sich der Verlust des Selbstwertgefühls nach außen manifestiert. „Immer mehr Menschen sind der Überzeugung, dass sie nichts falsch gemacht haben und somit nicht für ihren eigenen Kummer verantwortlich sind. Daher sehen sie auch keinen Grund, in ihrem Leben etwas zu verändern. Doch was sie noch mehr belastet als ihr eigenes Leid ist der Anblick derer, denen es besser geht“, so Müller. Die Reaktion: Ich werde dafür sorgen, dass es euch schlechter geht, um mich selbst besser zu fühlen. Die forensische Psychologie verwendet dafür den Begriff des malignen Narzissten. Müller: „Arbeitsplatzkriminalität ist das Ergebnis aus dem Verlust des Selbstwertgefühls und einer fehlgeleiteten Kompensation, wie sich dieses wieder heben lässt. Man glaubt, wenn man etwas zerstört, einem anderem etwas wegnimmt, Infos zurückhält, Daten mitnimmt, dass damit der verloren gegangene Selbstwert wieder ins Lot kommt. Ergo: Breit diversifizierte und glückliche Mitarbeiter*innen werden am Arbeitsplatz nicht kriminell.” Mit höchster Wahrscheinlichkeit jedenfalls. Sie wissen ja: Fix is nix.
Das Selbstwertgefühl ist also die Basis für ein gelungenes Leben. Dafür ist per se natürlich nicht der Arbeitgeber zuständig. Ebenso wenig wie für das persönliche Glück. Doch Führungskräfte müssen in der Lage sein, Dysbalancen zu erkennen. Das setzt voraus, dass man sich für seine Mitarbeiter*innen interessiert. Führungskräfte müssen ein Auge darauf haben, was in ihrem Unternehmen passiert, um (Verhaltens-)Änderungen frühzeitig zu erkennen und damit destruktives Verhalten zu verhindern. Das braucht vor allem eines: Empathie. Dazu hat Thomas Müller noch einen ganz pragmatischen Tipp: Vermeiden Sie länger anhaltende Belastungssituationen im Unternehmen. „Man muss Veränderungsprozesse spätestens nach sechs Monaten abschließen. Sonst werden Menschen unruhig“, weiß er. Und: Identifikation mit dem Unternehmen funktioniert nur über Wertschätzung, Respekt und Kommunikation. Geld mag ein Motivator sein, allerdings ein sehr kurzfristiger: „Wenn Sie in Ihrem Unternehmen präventiv arbeiten wollen, müssen Sie auf die Leute zugehen und die einfache Frage stellen: Wie geht es dir? Und an der Antwort ehrlich interessiert sein.“
Text: Marina Bernardi