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Wirtschaft

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2.2.2023

Seit mindestens 50 Jahren, wahrscheinlich aber noch viel länger, ist allgemein bekannt, dass sich endliche planetare Ressourcen nicht beliebig lange mit unendlichem, teils exponentiellem Wachstum vertragen. Mit seinem Bericht „Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit“ hat der einflussreiche Thinktank – nicht für seinen Mangel an Visionen bekannt – bereits 1972 darauf hingewiesen, dass exponentielles Wachstum binnen hundert Jahren an die absoluten Wachstumsgrenzen des Planeten führen könnte. Die Hälfte dieser Zeit ist verstrichen, die Szenarien, die der Club of Rome aufgezeigt hat, sind teilweise bereits eingetroffen.

Schon in den 1970er-Jahren formulierte man im Bericht, dass es mit dem sanften Drehen an ein paar Stellschrauben nicht getan sein würde: „Unsere gegenwärtige Situation ist so verwickelt und so sehr Ergebnis vielfältiger menschlicher Bestrebungen, daß keine Kombination rein technischer, wirtschaftlicher oder gesetzlicher Maßnahmen eine wesentliche Besserung bewirken kann. Ganz neue Vorgehensweisen sind erforderlich, um die Menschheit auf Ziele auszurichten, die anstelle weiteren Wachstums auf Gleichgewichtszustände führen.“ Der Bericht war indes weniger als Weissagung gedacht denn als Denkanstoß, der sensibilisieren sollte für das Verhalten komplexer Systeme, die Dynamiken exponentiellen Wachstums und die Risiken, die erst mit Verzögerung schlagend werden.
 
Eine Analogie aus der Klimaforschung sind die ebenso vielzitierten wie oft missverstandenen Kipppunkte. Das Klimasystem kann nämlich höchst nichtlinear reagieren, und steht dieses System nahe an der Kippe, können bereits kleine Änderungen – etwa in der Temperatur – für weitreichende, irreversible Folgen sorgen. Die Wissenschaft hat zwischenzeitlich 16 dieser Kipp-elemente identifiziert, eine Begrenzung des globalen durchschnittlichen Temperaturanstiegs auf zwei Grad – das ohnehin bereits ambitionierte Zwei-Grad-Ziel – dürfte nach dem Stand der Forschung nicht ausreichen, um alle diese zu stabilisieren.
 
Schubumkehr
 
Heute ist evident, dass zahlreiche Ressourcen der Erde chronisch übernutzt werden und das mögliche Gegenmittel, das dieses Problem zwar nicht beheben, aber doch signifikant lindern kann, die Kreislaufwirtschaft, noch in den Kinderschuhen steckt. Folgt man dem neuen Club-of-Rome-Bericht „Earth for All“, er trägt den vielsagenden Untertitel „Ein Survivalguide für unseren Planeten”, dann braucht es nicht bloß eine Kehrtwende, sondern derer gleich fünf, allesamt außerordentlich, um das Ruder noch herumzureißen.
 
Nun könnte man berechtigterweise fragen, ob es nicht auch eine Nummer kleiner ginge. Den potenziell monströsen Folgen eines More-of-the-Same kann man aber auch mit steilen Ansagen begegnen, um die Dimension der Herausforderung zu verdeutlichen. Die Szenarien des Club of Rome sind allesamt nicht aus der Luft gegriffen, sondern Ausfluss eines komplexen Rechenmodells, dem eine große Menge an Variablen und damit Daten zugrunde liegen. Das Earth4All-Modell berücksichtigt dabei kausale Rückkopplungen, die komplexe Systeme kennzeichnen. Die Marschrichtung ist klar: Es geht um die Wurst, um nichts Geringeres als die Zukunft der Menschheit. Der eingeschlagene Pfad soll verlassen werden, was die Armut, die Ungleichheit, die Geschlechterverhältnisse, die Ernährung und nicht zuletzt das Energiesystem betrifft. All das soll im globalen Maßstab geschehen, und zwar am besten gestern. Geht alles seinen gewohnten Gang, wird den Menschen die Entscheidung über die Gestaltung der Zukunft abgenommen, sind wir doch auf dem besten Weg, die Grenzen des Wachstums aufgezeigt zu bekommen, anstatt uns bewusst für unsere eigenen entscheiden zu können. Das Selbstbeschwichtigungsmantra „Alles wird gut!“ verfängt nicht mehr. Heute sind wir noch einen Schritt vom Abgrund entfernt, morgen sind wir, wenn alles so weitergeht, vielleicht schon einen Schritt weiter.
 
Man muss kein allzu großer Pessimist sein, um anzuzweifeln, dass sich das alles ausgehen wird. Die möglichen Konsequenzen, die weiteres Zögern und ein Weitermachen wie bisher zeitigen könnten, sind allerdings zu schwerwiegend, um nicht die Kehrtwende zumindest zu versuchen. Das internationale politische System ist nicht dazu angelegt, vorbehaltlos zu kooperieren. Supranationale Instanzen sind häufig zahnlos oder aber gelähmt. Das gilt vor allem in instabilen Wendezeiten, in denen einzelne Staaten anscheinend die Weltordnung neu ausverhandeln wollen und dafür das Schlachtfeld als ebenso legitime wie geeignete Arena betrachten. Eigentlich bräuchte es so etwas wie eine Weltinnenpolitik, um die Herausforderungen koordiniert in Angriff nehmen zu können und Trittbrettfahrer abzuschrecken.
 
Ungleichgewichtszustände
 
Von einem Gleichgewichtszustand ist die Menschheit global weit entfernt, die Ungleichheit nimmt punktuell sogar zu. Die globalen Vermögensungleichheiten sind noch ausgeprägter als die Einkommensungleichheiten. „Die globalen Ungleichheiten scheinen heute ungefähr so groß zu sein wie auf dem Höhepunkt des westlichen Imperialismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts“, heißt es im Bericht zur weltweiten Ungleichheit 2022. Mit dieser Einkommens- und Vermögensschieflage geht zwangsläufig auch eine ökologische Unwucht einher. Eine durchschnittliche Person emittiert gemäß Ungleichheitsbericht 6,6 Tonnen Kohlendioxidäquivalent (CO2) pro Kopf und Jahr. „Die obersten zehn Prozent der Emittierenden sind für fast 50 Prozent aller Emissionen verantwortlich, während die unteren 50 Prozent nur zwölf Prozent der Gesamtemissionen produzieren“, heißt es dort. Dass sich besonders idealistische und besorgte Menschen irgendwo festkleben, weil sie auf die Folgen des Klimawandels aufmerksam machen und ihre jeweiligen Regierungen zum Handeln bewegen oder vielmehr zwingen wollen, ist weniger schlimm als der Umstand, dass sich allzu viele Länder politisch festgeklebt haben an Positionen, die um der Vernunft willen längst hätten aufgegeben werden müssen. Vieles, was bereits in der Vergangenheit hätte getan werden können, wurde bestenfalls verschlafen, schlimmerenfalls boykottiert oder gar sabotiert. Klimakleben ist sicher nicht besonders klug, es ist ein Akt der Verzweiflung und des zivilen Ungehorsams gegen eine Politik, die sich selbst einzementiert hat und nur sehr träge auf Notwendigkeiten für Veränderungen reagiert, für welche die Gesellschaft vielleicht schon eher bereit ist. Trägheit und Defätismus können gerade in der Klimapolitik zu Self-Fulfilling-Prophecies werden. Es sind in erster Linie die Bürger*innen, die es in der Hand haben, in und außerhalb der Wahlzelle mehr Druck auf ihre Regierungen auszuüben, aktiv zu werden. Es versteht sich von selbst, dass die angeregten Kehrtwenden auf der globalen Bühne vollzogen werden müssen. Das heißt freilich nicht, dass nicht auch auf den darunterliegenden Ebenen – vom Individuum über die Familie und innerhalb jeder Gebietskörperschaft – der Boden für einen „Giant Leap“, wie das positivste Szenario im Bericht heißt, bereitet werden kann.
 
Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit
 
Im Gegensatz zu den Dinosauriern ist es kein unvorhersehbarer, plötzlicher Asteroideneinschlag, der der Menschheit die Lebensgrundlagen entzieht. Das besorgt sie offenbar selbst, (Fort)schritt für (Fort)schritt. Es könnte als besonders zynische Form der Gerechtigkeit gelesen werden, dass ausgerechnet das, was der Mensch unablässig zerstört, ihn letztlich selbst zerstört. Die zukünftigen Herausforderungen werden nicht kleiner, ganz unabhängig davon, welcher Weg eingeschlagen wird.
 
Es ist nicht alles verloren. Der Mensch ist, wenn er sich darauf besinnt, doch auch ein vernunftbegabtes Wesen, das durchaus imstande ist, mit widrigen Bedingungen zurande zu kommen. Eine Spezies, die vielleicht sogar fähig ist, Wirtschaft und Zusammenarbeit für ein gedeihliches Zusammenleben auf dieser Erde – eine andere haben wir nicht – anders zu denken. Resilient zu sein, wie es heute heißt, und ein wirklich weltumspannendes Projekt anzugehen, das im Wortsinn TOO BIG TO FAIL ist.
 
Im Anthropozän hat der Mensch das Fliegen gelernt und sich „über die vom Holozän gesetzten Grenzen hinauskatapultiert“, steht im Bericht. Nun ist es Zeit, zur Landung anzusetzen, die wir noch selbst gestalten können. Eine sanfte Landung, welche die Erde für alle zu einem Ort macht, um in Würde und relativer Stabilität leben zu können.
 
Text: Marian Kröll

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