Die Wirtschaft steht in den kommenden Jahrzehnten vor einem Paradigmenwechsel, der – auch wenn es noch nicht so scheinen mag – langfristig ohne Alternative ist: die Kreislaufwirtschaft. Die Abkehr von der linearen Durchflusswirtschaft, die Rohstoffe verbraucht und auf die Zuführung immer neuer Ressourcen angewiesen ist, ist nicht nur aus ökologischen Gesichtspunkten notwendig. In der Kreislaufwirtschaft werden Produkte nicht entsorgt, sondern einem erneuten Produktionsprozess zugeführt, um einen kontinuierlichen Kreislauf zu schaffen. Wirtschaft und Gesellschaft stehen allerdings erst ganz am Beginn dieser Entwicklung. Osttirol ist seit 2023 Modellregion, in der im Rahmen eines auf mehreren Schultern ruhenden Projekts finanziell tragfähige und umsetzbare Lösungen mit Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft entwickelt werden sollen.
Osttirol ist in diesem Fall ein Stück der kleinen Welt, in der die große ihre Probe hält. Es ist kein Zufall, dass dieses Pionierprojekt ebendort durchgeführt wird, wie INNOS-Geschäftsführer Reinhard Lobenwein ausführt: „Osttirol ist gewissermaßen prädestiniert für ein derartiges Projekt. Das hängt zum einen mit der Überschaubarkeit der Region bei gleichzeitig intensiver Vernetztheit zusammen. Ein Drittel der Flächen stehen unter Naturschutz und sind damit der intensiven wirtschaftlichen Nutzung entzogen. Das wird heutzutage aber überwiegend nicht mehr als Hemmschuh, sondern zunehmend auch als Chance begriffen. Weil der Zugang zu externen Ressourcen vor allem in der Vergangenheit wahrscheinlich schwieriger gewesen ist als andernorts, waren schon immer Einfallsreichtum und Improvisationstalent gefragt. Deshalb gibt es hier eine Vielzahl an innovative Firmen, deren wichtigste Ressource bis heute der Erfindungs- und Ideenreichtum der Menschen ist.“
Der Fokus auf die Kreislaufwirtschaft ist aber nicht das einzig Neue an diesem moderierten Prozess. Vielmehr findet Innovation hier mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) statt. Das entsprechende Werkzeug, ein KI-Innovation-Hub namens INNOVERSE, stellt die von CEO und Gründer Franz Bailom geführte in-manas GmbH mit Sitz in Innsbruck zur Verfügung, moderiert wurde der neuartige Prozess von in-manas und der Tiroler Circular-Economy-Ideenschmiede endlich., die von Anna Köhl und Simon Tumler gegründet wurde. Köhl und Tumler geben ihr Know-how seit kurzem auch im Rahmen des Online-Diplomlehrgangs „Circular Economy Pioneer“ weiter. „Wir geben darin Antworten auf das Was, das Warum und das Wie der Kreislaufwirtschaft“, sagt Simon Tumler.
Endlich handeln
Anna Köhl beschäftigt sich schon seit zehn Jahren wissenschaftlich mit Alternativen zum bestehenden Wirtschaftssystem. Über die Sharing Economy kam sie zur Kreislaufwirtschaft. Das Thema fesselt sie, und so gründet sie Anfang 2023 mit ihrem Kollegen Simon Tumler, mit dem Köhl bei IMP Consulting zusammengearbeitet hat, endlich. Endlich wie etwas Langerwartetes und endlich wie die Ressourcen der Erde.
Die Zeit scheint reif für die Kreislaufwirtschaft. Sie hat, wenn sie von ihrem Anfang her gedacht bzw. gleich im Produktdesign berücksichtigt wird, ohne Zweifel disruptiven Charakter für die Geschäftsmodelle einzelner Unternehmen und ganzer Wirtschaftszweige. Sie könnte aber auch für ganze Regionen transformativ wirken. Die Pilotregion Osttirol könnte in den kommenden Jahren einen ersten Vorgeschmack darauf geben. „Die Ressourcen, auf die unser heutiges Wirtschaftssystem angewiesen ist, kommen vielfach aus geopolitischen Krisengebieten. Was wäre, wenn wir diese Ressourcen, die wir einmal importiert haben, dauerhaft im Wirtschaftskreislauf halten könnten?“, stellt Anna Köhl eine wichtige Frage, auf welche die Kreislaufwirtschaft eine Antwort geben kann. Bei Unternehmen geht es darum, ihnen die betriebswirtschaftlichen Chancen der Circular Economy einerseits und die Gefahren des Verharrens im Status quo näherzubringen. „Kreislaufwirtschaft ist ein Innovationskatalysator“, sagt Tumler. Das ist auch beim Pilotprojekt in Osttirol augenfällig geworden. „Kreislaufwirtschaft eröffnet ganz neue Geschäftsmodelle, vom Sharing über Product-as-a-Service bis hin zu Resource-Recovery-Modellen. Das ist auch eine Chance, sich vom Wettbewerb zu differenzieren und Kundennutzen zu generieren, der weit über den des klassischen Kaufs bzw. Verkaufs hinausreicht“, führt Tumler aus, der insbesondere bei der jüngeren Generation einen reduzierten Materialismus und neue Werte ortet. „Es geht mehr um das Nutzen als um das Besitzen. Das bringt größere Freiheiten und Flexibilität“, so der Experte.
Neuer Rahmen
Die Weichenstellung in Richtung einer nachhaltigeren Wirtschaft als der bisherigen kündigt sich auch mit Blick auf die regulatorischen Voraussetzungen deutlich an. Die SDGs, ESG-Kriterien und auch die EU-Taxonomie tragen diese Handschrift und werden längst nicht die letzten Bestandteile eines neuen wirtschaftlichen Rahmens gewesen sein. Regularien allein werden es aber nicht richten können. Dazu braucht es auch ein Umdenken bei Konsument*innen, die jahrzehntelang durch höchst professionelles Marketing auf Konsum, Konsum und noch einmal Konsum getrimmt wurden, auf einen ewigen Zyklus aus Kauf, Entsorgung und Neukauf. „Marketing ist gefordert, besser herauszuarbeiten, ob es der Konsum an sich oder nicht doch die Nutzung eines Produktes ist, die Freude macht. Lebensfreude ist jedenfalls nicht deckungsgleich mit dem Konsum. Wir müssen diesbezüglich Gewohnheiten durchbrechen und auch manches verlernen“, sagt Anna Köhl.
Als Verbraucher*innen wissen wir nur, wie man sich innerhalb des bestehenden wirtschaftlichen Paradigmas verhält. Anna Köhl sieht auch den Hochschulsektor gefordert: „Es heißt zwar Wirtschaftswissenschaften, aber eigentlich wird nach wie vor hauptsächlich die Durchflusswirtschaft gelehrt.“ Die Kreislaufwirtschaft ist noch kein Massenprogramm. Der Circularity Gap ist in den vergangenen Jahren global betrachtet nicht kleiner, sondern sogar größer geworden. „Die Erzählung vom grünen Wachstum hat sich leider bislang als falsch erwiesen. Jede Steigerung des BIP ging bislang mit einer Steigerung des Ressourcenverbrauchs einher. Das muss entkoppelt werden“, hält Anna Köhl fest. Einen merklichen Impact verspricht man sich seitens INNOS von einer Basisausbildung Kreislaufwirtschaft für Unternehmen und auch die Pflichtschulen möchte man zur Bewusstseinsbildung in den Bereichen MINT – Osttirol ist übrigens bereits zertifizierte MINT-Region –, Energie und Kreislaufwirtschaft anregen.
Noch ist die Kreislaufwirtschaft eine Nische, der wirtschaftliche Erfolg für First Mover nicht gewiss. Der Innovationsprozess, der in Osttirol angestoßen wurde, kann aber in jedem Fall als Blaupause dienen, wie gesellschaftlich breit getragene Innovation heutzutage funktionieren kann. Jene Ideen, die als (noch) nicht oder in der Region nicht sinnvoll umsetzbar erscheinen, fallen nicht dem Vergessen anheim, sondern werden in einem Ideenspeicher aufbewahrt, aus dem sich andere Regionen bedienen können. Derart kann Schritt für Schritt ein Innovations-Ökosystem entstehen, das sich wechselseitig befruchtet. „Momentan ist gerade in einem herausfordernden wirtschaftlichen Umfeld Pioniergeist gefragt!“, betont Simon Tumler. In Osttirol hat man diese Herausforderung dankend angenommen.
Text und Fotos: Marian Kröll