Auf der Erde herrscht ein Kommen und Gehen. Das war schon immer so. Tiere und Pflanzen werden lebendig und gehen nach Ende ihrer Lebenszeit wieder unter. Sie sind, um eine biblische Metapher aufzugreifen, dem Erdboden entnommen und kehren nach ihrem Tod in die Erde zurück. Sie werden Teil des Substrats, auf und von dem ein wesentlicher Teil der Tiere, die auf dem Planeten kreuchen und fleuchen, und der Pflanzen, die, überwiegend unauffällig Photosynthese betreibend herumstehen, lebt. Dieses Werden und Vergehen betrifft aber auch ganze Arten. Manche sterben aus, wieder andere evolvieren neu oder werden erst vom Menschen entdeckt und kategorisiert. Beschleunigt sich dieses Aussterben und betrifft große Teile des Artspektrums, ist von einem Massenaussterben – im Englischen Extinction Event – die Rede. Große Aussterbeereignisse sollen zwar im Laufe der Erdgeschichte bereits öfter vorgekommen sein, Ereignisse in der Dimension eines Extinction Event soll es bisher fünf gegeben haben, so der Stand der Wissenschaft. Das vorläufig letzte, das fünfte, soll durch einen Kometeneinschlag eingeleitet worden sein und mit den Dinosauriern den Großteil der mesozoischen Fauna von der Erde getilgt haben.
Massensterben hausgemacht
Heute verdichten sich die Anzeichen, dass wir uns bereits seit einigen Jahrzehnten im sechsten Massenaussterben befinden. Asteroiden sind dieses Mal gänzlich unschuldig an der Misere. Das ist positiv, weil dadurch der Verursacher die Chance hat, einen Kurswechsel zu vollziehen und das Sterben, wenn es auch nicht vollständig umgekehrt werden kann, doch zu verlangsamen. Dieses Phänomen mit offenem Ausgang hat der Mensch diesmal allein angerichtet und zu verantworten. Das Anthropozän, das gegenwärtige Erdzeitalter, das der Mensch geprägt und daher nach sich benannt hat, ist durch Überkonsum und Übernutzung der Ressourcen der Erde gekennzeichnet. Das führt dazu, dass es für Tiere und Pflanzen zunehmend eng wird auf diesem Planeten. Der Druck auf tierische Lebensräume führt zu unangenehmen Nebenwirkungen, die für den Menschen heftiger ausfallen können als ein Schnupfen. Tiere, die bislang nicht regelmäßig Kontakt zu Menschen hatten, sind ein Reservoir für Viren aller Art. Das hat man global im Zuge der jüngsten Pandemie leidvoll erfahren dürfen. Gut möglich, dass das Virus aus einem chinesischen Labor entkommen ist, ursprünglich stammt es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einem Tier. Doch das nur am Rande. Im Anthropozän fallen Erd- und Menschheitsgeschichte schicksalshaft zusammen, das eine ist ohne das andere nicht mehr zu denken, so dominant ist der Einfluss des Menschen auf den Planeten geworden. Das bringt ganze Ökosysteme ins Wanken, bei manchen scheint der Kollaps unabwendbar, bei anderen gibt es noch Hoffnung, dass die negative Entwicklung, wenn schon nicht umgekehrt, so doch noch aufgehalten oder zumindest verzögert werden kann. Zweifellos leben wir in einem Zeitalter instrumenteller Naturbeherrschung, einer Geisteshaltung, die bisweilen in die Hybris hineinkippt und unser heutiges Selbstverständnis dominiert. Die Rolle des Menschen als „Herr und Eigentümer der Natur“, wie der französische Philosoph René Descartes es einst formulierte, ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Wir richten uns den Raum – dieser umfasst den ganzen Planeten und wohl bald auch den Mond – nach unseren Bedürfnissen und Wünschen ein und passen die Umwelt unserer Lebensweise an, ohne Rücksicht auf deren Belastungsgrenzen zu nehmen. Die Rechnung dafür bekommt die Menschheit im Kollabieren ganzer Ökosysteme präsentiert. Erst allmählich scheint der Gattung Homo Sapiens – die sich selbst die Attribute „weise, gescheit, klug und vernünftig“ (sapiens) zugeschrieben hat – zu dämmern, dass die Grenzen der Natur auch ihre eigenen Grenzen sind. Klimawandel und, das wird erst langsam bewusst, Biodiversitätsverlust sind die gegenwärtig größten Herausforderungen für die Menschheit und zugleich eine einzige große Zumutung, verlangen sie doch danach, dass sich der Mensch ändert und seine Lebensweise und seinen Modus Operandi im Umgang mit den endlichen Ressourcen des Planeten überdenkt. Eine „Get Out of Jail Free Card“ in Gestalt der Technologie gibt es diesmal nicht, auch wenn das gelegentlich von nicht ganz ernst zu nehmenden politischen Akteuren suggeriert wird. Wir können uns aus diesem Fiasko nicht heraus entwickeln, der technologische Fortschritt wird es allein nicht richten können. Er kann lediglich dazu beitragen, die Herausforderungen zu bewältigen. Es geht darum, den Menschen und seinen Platz in der natürlichen Ordnung neu zu denken, ihn als Teil der Natur, als Lebewesen unter Lebewesen zu sehen und nicht andersherum. Ein kollektives „nach uns die Sintflut“ geht sich nicht mehr aus.
Aktivismus ist besser als Passivismus
Jedenfalls ist es besser, zu viel tun zu wollen als zu wenig. Aktivismus ist besser als Passivismus. Punkt. Man kann der heutigen Jugend nicht vorwerfen, eine Zukunft erfinden zu wollen, die sich von der ihrer Elterngeneration unterscheidet. Über Detailfragen auf dem Weg dorthin lässt sich trefflich streiten: Ob es beispielsweise sinnvoll ist, den Verbrennungsmotor, der auch mit alternativen Treibstoffen betrieben werden könnte und das Rückgrat der europäischen Automobilindustrie darstellt, abzustellen und stattdessen rein auf die Elektromobilität – die ihre ganz eigenen auch ökologischen Herausforderungen mit sich bringt – zu setzen, ist längst nicht abgemacht. Mehr noch als die Frage des „richtigen“ Antriebsprinzips würde aber die Frage nach dem „richtigen“, das heißt, in diesem Fall umweltverträglicheren Mobilitätsverhaltens, bewegen können. Aber damit kommt man gleich in das trübe Fahrwasser des Verzichts, der in einer Welt des vermeintlichen Überflusses übel beleumundet ist. Lieber scheinen wir auf ein paar Tier- und Pflanzenarten verzichten zu wollen als auf ein paar Kilometer im Privatfahrzeug. Das ist insofern erklärbar, weil die individuelle Mobilität immer noch ein Statussymbol ist. Je größer der individuelle Aktionsradius, desto größer die gesellschaftliche Aufwärtsmobilität, so die allzu simple Rechnung, Bali > Balkonien. Bei aller geschäftigen Reisetätigkeit geht meist unter, dass man nur dort, wo man zu Fuß war, auch wirklich gewesen ist. Das hat zwar nicht Goethe gesagt, aber es stimmt, dass nur zu Fuß die Seele Schritt zu halten vermag. So ist der Mensch evolutionär angelegt. Defätismus ist, so viel scheint gewiss, die falsche Reaktion auf die gegenwärtigen multiplen Herausforderungen. Zu sagen, es sei ohnehin bereits zu spät, man könne nichts mehr machen, es komme wie es eben komme, macht passiv, dabei gilt es, die Ärmel hochzukrempeln und ins Handeln zu kommen um zu retten, was zu retten ist. Das ist eine Generationenaufgabe, eine Mammutaufgabe, der eine gewisse Gerechtigkeit innewohnt: Niemand wird zu retten sein, wenn nicht alle gerettet werden. Probleme, die im globalen Maßstab entstanden sind, müssen auch global gelöst werden. So einfach und zugleich unendlich schwierig verhält sich die Sache. Die Voraussetzungen, gemeinsam die Lebensgrundlagen des Menschen zu schützen und zu erhalten, sind denkbar schlecht, auch wenn es in der Vergangenheit mit dem Montreal-Protokoll oder gegenwärtig dem UN-Vertrag zum Schutz der Hohen See (BBNJ-Abkommen), das sich erst bewähren muss, Beispiele für internationale Kooperation zum Schutz der Artenvielfalt gab. Die internationale Ordnung ist fragil wie lange nicht, am Horizont zeichnet sich bereits ein neuer Kalter Krieg ab, diesmal stehen wohl der Westen und China mit einem russländischen Vasallen einander in neuer Unversöhnlichkeit gegenüber. Die Position der übrigen BRICS-Staaten, von denen vor allem in ökologischer Hinsicht Brasilien und Indien zu den großen globalen Sorgenkindern gehören, wird sich erst noch herauskristallisieren.
Eine Welt ohne Insekten ist eine tote Welt
Manche Tierarten werden ohnehin als lästig empfunden, vor allem aus dem Reich der Insekten, deren Biomasse in den vergangenen dreißig Jahren um bis zu 75 Prozent abgenommen haben soll. Das lässt sich ausgerechnet beim Autofahren sogar selbst beobachten. Vor nicht allzu langer Zeit war die Windschutzscheibe nach zügiger Fahrt in der warmen Jahreszeit voller Insekten, heute klatscht noch sporadisch da und dort ein Insekt gegen die Scheibe. Eine Welt ohne Insekten ist eine tote Welt. Das ist keine Metapher, sondern eine nüchterne Feststellung. Mehr als 85 Prozent der Pflanzenarten sind abhängig von Bestäubung durch Insekten, darunter solche, die zu den weltweiten Nahrungsgrundlagen zählen. Man kann einzelne Plantagen zwar – wie das heute teilweise in China bereits gemacht wird – mit dem Pinsel von Blüte zu Blüte von Hand bestäuben, in großem Maßstab ist das aber nur für Einfaltspinsel eine denkmögliche Alternative zur Bestäubung durch Insekten.
Die Natur als wichtigster Dienstleister
Mit Verzichtsappellen gewinnt man in der Me, myself and I-Gesellschaft keinen Blumentopf. Das Wort „Verzicht“ ist ähnlich kontaminiert wie der „Kompromiss“ in politischen Kontexten, dem ein fauliger Geruch anhaftet. Daher lohnt es, die Sache einmal von einer anderen Perspektive her zu betrachten. Wer sich egozentrisch fragen mag: „Was hat denn die Natur je für mich getan?“, dem sei die Befassung mit sperrigen Begriff Ökosystemdienstleistungen* ans Herz gelegt. Dabei handelt es sich um den Nutzen und die Vorteile, die der Mensch aus seinen Ökosystemen bezieht. Die schlaue Wikipedia kennt auch ein paar Beispiele, die klar machen sollten, dass die Leistungen des Ökosystems unverzichtbar sind: Ökosystemdienstleistungen sind das Bestäuben von Obstblüten durch Insekten, die Bereitstellung von nutzbarem Bewässerungs- und Trinkwasser durch natürliche Filtration von Niederschlag, die Reproduktion von Fischpopulationen als Nahrungsmittel sowie die Bereitstellung von frischer Luft und einer ansprechenden Umwelt für Freizeit, Erholung und ästhetischen Genuss. Der moderne Mensch, der sich häufig selbst des Hedonismus bezichtigt, zeigt sich in Bezug auf die Natur plötzlich genügsam. Betonwüsten und Asphaltbrachen in der Stadt lassen uns – obwohl diese im Sommer zur lebensfeindlichen Hitzeinsel werden können – seltsam kalt. Dabei verschafft Grünland, das vielfältigen Lebensraum für Tiere und Pflanzen wie für den Menschen bietet, gerade in der Stadt Erleichterung. Die Grüne Infrastruktur ist die Infrastruktur der Zukunft. Biodiversität ist Lebensqualität. Über all das und mehr haben wir uns eingehend mit dem Ökologen und Biodiversitäts-Experten Johannes Rüdisser von der Universität Innsbruck unterhalten (ab Seite XX). Zuletzt und der Vollständigkeit halber drängt sich – zumal weil das hier ein Wirtschaftsmagazin ist – die Frage auf, ob Biodiversität denn auch für die Wirtschaft gut ist? Das ist sie. Denn ohne Biodiversität kommt irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft auch der Mensch auf die Liste der vom Aussterben bedrohten Arten. Das ist auch für die Wirtschaft schlecht, denn Tote konsumieren nicht.
Text: Marian Kröll