Es ist mittlerweile in Europa so gut wie Konsens, dass es den fossilen Brenn- und Rohstoffen allmählich an den Kragen gehen soll und bestehende Stoffe – Stichwort Kreislaufwirtschaft – möglichst lange im Wirtschaftskreislauf gehalten werden sollen. Darüber hinaus sollen Werkstoffe mit größerem ökologischen Fußabdruck – meist auf fossiler Basis – sukzessive durch Materialien ersetzt werden, die natürlicher sind. An der Universität Innsbruck, genauer gesagt am Institut für Konstruktion und Materialwissenschaften, im Arbeitsbereich für Materialtechnologie, wurde zu diesem Zweck das GROWNlab als Arbeitsgruppe gegründet. Hier, gut versteckt in einem Kellergeschoss am Campus Technik, arbeitet federführend Valentine Troi mit ihrem interdisziplinären Team daran, nachwachsende Rohstoffe in Materialien zu verwandeln, mit denen und auf die man bauen kann.
Troi ist Architektin und hat vor 15 Jahren ein Haus weiter als wissenschaftliche Assistentin gearbeitet. Aus dieser Zeit rührt auch ihre Faszination für natürliche Baumaterialien her. Parametrisches Design, das damals in Innsbruck von Zaha-Hadid-Weggefährte Patrik Schumacher maßgeblich vorangetrieben wurde, sei „in der Software einfach zu erzeugen, in der praktischen Umsetzung aber eine mittlere Katastrophe“ gewesen, erinnert sich Troi. „Meine Aufgabe in der Lehre war es damals, den Studierenden zu erklären, dass sie sich zuerst über die Materialeigenschaften im Klaren sein sollten und ihre Entwürfe daran auszurichten hätten“, sagt Troi. Eine mühsame Aufgabe, bei der sie an Grenzen stößt, mit denen sie sich jedoch nicht abfinden will: „Wenn es die Industrie nicht macht, dann produziere ich eben einen Werkstoff, der sich den Anforderungen des parametrischen Designs entsprechend biegen lässt, zunächst weich und beliebig formbar ist und dann aushärtet.“
Gesagt, getan. Und zwar zunächst noch in Form eines glasfaserverstärkten Kunststoffs, den sie später gemeinsam mit der Universität Innsbruck patentieren lässt. „Ich bin damit recht schnell in der Industrie gelandet“, so Troi, die das von ihr in diesem Zusammenhang gegründete Start-up vor einigen Jahren verkauft hat, um sich anderen Dingen zu widmen, die ihr ökologisch sinnvoller, ja nachhaltiger, erschienen. Glasfaser und Carbon sind nämlich in der Produktion ausgesprochen energieintensiv und kaum recycelbar. Also geriet die Naturfaser in den Fokus der Forscherin. „Flachs war damals ein großes Thema in einer kleinen Nische. Und das Interesse an Hanf ist in den letzten Jahren auch stark gewachsen.“ Mit Sportartikelhersteller Salewa, der eine eigene Alpine-Hemp-Produktlinie erschaffen hat, bastelt Troi an einem Skistock aus Hanf. „Das war schwieriger als gedacht, aber ich bin drangeblieben.“ Und siehe da, der steile Weg vom fasrigen Hanfstängel zum unbeugsamen Skistock war geebnet. Die Standortagentur Tirol wird daraufhin auf Valentine Troi aufmerksam und beauftragt sie mit der Bildung eines Netzwerks, um – analog zur Tirolwool für das Schaf – den alpinen Hanf nutzbar zu machen. Dieses Netzwerk Alpenhanf 360° besteht nach wie vor.
Die Hanfflüsterin
Mit ihrem GROWNlab, für das es vom Land Tirol eine Anschubfinanzierung von 245.000 Euro gab, hat sich Valentine Troi an der Fakultät für Technische Wissenschaften im von Roman Lackner geleiteten Arbeitsbereich für Materialtechnologie angesiedelt, weil dort die für ihre Forschung notwendigen Gerätschaften zur Verfügung stehen. Zusätzlich hat Troi bislang 750.000 Euro an Drittmitteln einwerben können. „Die Industrie interessiert sich zur Zeit brennend für die sogenannten biobasierten Materialien“, sagt Troi, wohlwissend, dass der Begriff nicht ganz glücklich gewählt ist. Die Arbeitsgruppe Biobasierte Materialien, die sie leitet und welche am universitären Forschungsschwerpunkt Functional Materials Science beteiligt ist, hat mittlerweile mehrere Projekte am Laufen, drei davon finden im europäischen Kontext statt. Im GROWNlab sind das spezifisch das HORIZON-Projekt RAW sowie SPARE und hemp4performance. Dabei geht es unter anderem um Altholz, Biopolymere und schnellwachsende Fasern. Valentine Troi sieht für letztere derzeit aus mehreren Gründen mehr Potenzial in Industrieanwendungen als in der Architektur. Im und um das GROWNlab herum forscht heute ein interdisziplinäres Team, bestehend aus Architekt*innen, Mikrobiolog*innen, Nanowissenschaftler*innen und Landwirt*innen, und zieht wissenschaftlich an einem Strang. Aus Hanffasern, so wie es sich gehört. Bei der Kommerzialisierung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse fängt nicht immer der frühe Vogel den Wurm. Es besteht wie bei anderen Gütern auch bei den biobasierten Materialien eine gewisse Gefahr, dass in unseren Breiten bis zur Marktreife geforscht und entwickelt wird, die Massenware dann aber von ganz woanders herkommt. Besonders in China gibt es große Anbauflächen für Hanf und Co. Valentine Trois Hauptaugenmerk liegt auf dem Hanf, am Flachs forscht sie in erster Linie deshalb, „weil er den Stand der Technik definiert.“ Außerdem baut sie auf drei Versuchsflächen Hanf, Flachs, Gerste, Roggen, Sonnenblumen und – obwohl meist die ganze Pflanze als Tierfutter siliert wird – auch Mais an. Allesamt mit dem Ziel, die Fasern der Pflanzen derart zu verarbeiten, dass sie sich für industrielle und architektonische bzw. bauliche Anwendungen eignen. „Faserplatten kann man grundsätzlich aus all diesen Pflanzen pressen“, sagt Troi.
Die Forscherin hält den Anbau für unabdingbar, weil man die Pflanzen in all ihren Entwicklungsstadien kennen- und verstehen lernen müsse. „Um einen gewachsenen Rohstoff optimal verwerten zu können, muss man ihn verstehen. Der richtige Erntezeitpunkt ist bei diesen Pflanzenfasern immens wichtig.“ Erntet man zu früh, sind die Fasern zu fein, bei verspäteter Ernte wird die Faser „holzig und bockig“. Valentine Troi sucht nach dem Sweet Spot, dem kurzen Zeitraum, in dem die Fasern ideal zur Weiterverarbeitung in sogenannte Composites bzw. Faserverbundwerkstoffe sind. Die Anbaubestimmungen, etwa was den gesetzlich ohnehin schon äußerst niedrig angesetzten maximalen THC-Grenzwert für Nutzhanf betrifft, empfindet sie nach wie vor als praxisfern, ebenso wie die strengen Kontrollen und Dokumentationspflichten für das Saatgut. Das trägt wohl dazu bei, dass sich noch nicht mehr Landwirt*innen für den großflächigen Anbau der Pflanze erwärmen können.
Schäbig und fasrig
Für den Bausektor sind derweil noch die Schäben interessanter als die Fasern. Sie machen beim Hanf etwa 50 bis 60 Prozent des Stängels aus, bei Flachs ist der Anteil der Schäben mit 45 bis 55 Prozent etwas geringer. Damit sind diese das mengenmäßig umfangreichste Produkt des Faseraufschlusses. Roman Lackner forscht mit seinem Team im Rahmen eines Projekts an den Einsatzmöglichkeiten der Schäben. „Die Schäbe hat momentan im Bauwesen mehr Impact als die Faser“, sagt Troi und präzisiert: „Im Industrieprodukt in Form von Platten und Ziegeln, vor allem aus Hanfbeton, auch Hempcrete genannt. Ich glaube, dass dieses Material beim Wiederaufbau der Ukraine – bekanntermaßen ein sehr fruchtbares Land – eine bedeutende Rolle spielen kann.“
Die Zukunft der Faser sieht Troi im Bauwesen dagegen eher in der Dämmung. „Wobei es derzeit noch sehr schwer ist, preislich beispielsweise gegen Styropor anzukommen.“ Sie hat aufgrund dieses Kostennachteils bereits vielversprechende Start-ups scheitern sehen. „Es ist aber sicher ein Henne-Ei-Problem. Für bessere Prozesse braucht es größere Abnahmemengen.“ Die Economies of Scales – oder besser noch die Economy of Shives – haben bei den nachwachsenden Rohstoffen und insbesondere deren Weiterverarbeitung noch nicht zu wirken begonnen. Bauen ist außerdem auch mit konventionellen Materialien eine kostenintensive Angelegenheit. Bei den Bauherren gibt es meist kaum noch Spielraum für biobasierte Materialien, die teurer und weniger verbreitet sind.
Multitalent Myzel
Fasern sind längst nicht das einzige wissenschaftliche Feld, das Valentine Troi mit ihrem Team im GROWNlab bestellt. Sie forscht auch an sogenannten Myzelien. Als Myzel wird die Gesamtheit aller fadenförmigen Zellen eines Pilzes bezeichnet. Ihm kommt die Aufgabe zu, die biobasierten Rohstoffe aneinanderzubinden, es übernimmt gewissermaßen die Rolle des Klebstoffs. „Das funktioniert bereits relativ gut“, sagt die Forscherin. Es handelt sich dabei um einen Speisepilz, dessen Fruchtkörper irgendwann sogar den Weg auf den Teller finden könnte. „Unten wächst der Baustoff, oben der Austernseitling.“ Das ist Dual Use vom Feinsten, nur eben für kulinarische und industrielle Anwendungen.
Im GROWNlab wächst bereits heute das heran, was irgendwann einmal auch gestalterische Zwecke erfüllen können soll. „Ich werde oft gefragt, warum ich nicht lieber fabriziere und gestalte. Bevor man das tun kann, braucht es Grundlagenforschung, und das, was wir hier beforschen, ist spektakulär.“ So arbeitet sie auch mit dem Kombucha-Pilz, der einen Deckel aus bakterieller Zellulose bildet, der aushärtet und als Werkstoff dienen kann. Ein ähnliches Phänomen lässt sich übrigens auch bei naturtrübem Apfelessig beobachten. Was es damit tatsächlich auf sich hat, wäre wohl noch näher zu erforschen.
Zukunftsmodell oder Nischenromantik
Doch zurück zur Faser: „Es tut sich momentan wirklich sehr viel in diesem Bereich“, freut sich Valentine Troi über die gegenwärtige Dynamik bei biobasierten Materialien. An diese stellt sie hohe Anforderungen: „Es muss mindestens so lange halten wie ein Konkurrenzprodukt. Sonst bringt es nichts.“ Hohe Haltbarkeit bei gleichzeitiger biologischer Abbaubarkeit ist so etwas wie der Heilige Gral der biobasierten Materialforschung. Hier zeigt sich, ob die entwickelten Werkstoffe das Potenzial für den Massenmarkt haben oder bloß dazu dienen, sich gelegentlich ein grünes Mäntelchen umzuhängen. Dabei gibt es noch einige Hürden zu überwinden. „Naturfasern reagieren auf Wasser anders als mineralische oder fossile Fasern“, nennt Troi ein Beispiel. Damit sich diese überhaupt für die Weiterverarbeitung eignen, braucht es zudem eine gleichbleibend hohe und reproduzierbare Qualität. Die Bereitstellung selbiger ist gleichermaßen Herausforderung wie Chance, der sich die Landwirtschaft stellen kann, sind doch damit auch Erwerbsmöglichkeiten verbunden. „Wir sehen die Lösung im Potential kaskadischer Nutzung von Rest- und Abfallstoffen aus landwirtschaftlichen Konzepten, die Bodengesundheit und Biodiversität forcieren“, heißt es auf der Website des GROWNlab. In der Praxis kann das bedeuten, dass „die schlechtere Qualität in der Dämmung zum Einsatz kommt, bessere im textilen Filz und die beste Qualität als Langfaser für Composite-Materialien in der Performance-Anwendung. Man muss ganzheitlich denken und die Prozesse ganzheitlich verstehen.“
Der Herausforderung, für den Bausektor relevanter zu werden, will sich Valentine Troi mit ihrem Team stellen. „Wer in die Massenproduktion will, ist in der Baustoffindustrie sicher am richtigen Platz. Diesen Maßstabssprung auf die Baustelle wollen wir langfristig schaffen.“ Die Zeit wird zeigen, ob es sich bei den wissenschaftlichen Aktivitäten rund um die Naturfaser um ein – wie Troi in ähnlichem Kontext sagt – „Zukunftsmodell oder aber um Nischenromantik“ handelt. „Wir sind klein, wir sind agil, aber das heißt noch lange nicht, dass man unsere Ergebnisse beliebig skalieren kann.“
Damit die biobasierten Materialien reüssieren können, braucht es Kostenwahrheit, für die im Gebäudesektor ein Lebenszykluskosten-Ansatz inklusive Rückbau und Entsorgung sorgen könnte. Nicht zuletzt wird auch die Politik gefordert sein, sich zu deklarieren und biobasierte Baustoffe gegenüber fossilen – in welcher Form auch immer – besserzustellen. Ein anderer positiver Aspekt zeigt sich bereits jetzt: „Diese gewachsenen Rohstoffe bringen einen neuen Drive in die Materialtechnologie. Das Forschungsfeld wird viel weiblicher. Sobald es um nachwachsende Rohstoffe geht, liegt der Frauenanteil bei mindestens 50 Prozent.“ Dem Forschungsdrang rund um die Naturfaser scheinen bei Valentine Troi kaum Grenzen gesetzt. Dabei wird man mitunter auch mit wundersamen Ergebnissen belohnt. Oder wie die Architektin, die zur Materialforscherin geworden ist, mehrmals betont: „Die Natur ist ein Schalk!“
Text und Fotos: Marian Kröll