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Zukunft

Pflege-Wissenschaft

19.10.2021

Woran es in der Pflege krankt, welche Funktionen die Pflegewissenschaft zu erfüllen hat und wie es sich mit dem vielzitierten Pflegenotstand verhält, darüber haben wir uns mit Universitätsprofessor Gerhard Müller, Leiter des Departments Pflegewissenschaft und Gerontologie an der UMIT Tirol, unterhalten.


eco.nova: Ich kann mir vorstellen, dass Sie die Frage schon ein paar Mal gehört haben: Warum braucht die Pflege eine eigene Wissenschaft?

Gerhard Müller: Diese Frage kann ich schon gar nicht mehr hören. Man muss sich fragen, warum sie noch immer gestellt wird, obwohl es das Fachgebiet in Österreich seit drei Jahrzehnten gibt und in anderen Ländern seit über 100 Jahren. Wir sind eine eigene Profession, die darauf bedacht ist, dass die Tätigkeiten, die in diesem Rahmen ausgeübt werden, auf einer Befähigung beruhen. Pflegepersonen brauchen in der Praxis das Wissen aus der Pflegewissenschaft, um ihrer Verantwortung, die bestmögliche Pflege anbieten zu können, gerecht zu werden. 


Der Pflegenotstand ist ein wiederkehrendes Motiv in sämtlichen Diskussionen ums Thema. Haben wir einen solchen und falls ja, wie gravierend ist er?
 

Wir hatten vor der Coronakrise schon einen Pflegenotstand und der ist in der massivsten Krise, die wir zu unseren Lebzeiten erleben mussten, nicht besser geworden. Die Pflegepersonen sind körperlich und psychisch am Ende. Die Gewinner im Gesundheitssystem sind wir nicht. Es wäre höchst an der Zeit, daraus zu lernen und mit gewissen Dingen im österreichischen Gesundheitssystem aufzuräumen.


Was kann man gegen diesen Notstand unmittelbar tun? Pflegekräfte wachsen auch nicht auf Bäumen.
 

In den Medien ist immer wieder von der Pflegelehre die Rede. Das ist sicher kein Allheilmittel, weil sie lediglich die Pflegeassistenten betrifft. Wir können aber mit dieser einjährigen Ausbildung prinzipiell viele Menschen binnen kurzer Zeit ausbilden. Die sogenannten Pflegefachassistenten könnten auch relativ schnell ausgebildet werden, bei diplomierten Pflegepersonen, die nach dem Bachelor in die Pflege gehen, dauert die Ausbildung eben mal drei Jahre. Alles, was in diese Richtung unternommen wird, ist positiv. Man sollte sich die Pflegelehre ansehen und nach einer gewissen Zeit bewerten, ob sie funktioniert. Sie nicht auszuprobieren, wäre in der Situation fatal. Ich bin auch dafür, die Diplomierten aufzustocken, dabei aber die Qualität keinesfalls aus den Augen zu verlieren. Es braucht zudem Lösungen für die Menschen, die Pflegebedarf haben und aus dem Krankenhaus entlassen werden. Die Angehörigen kennen sich oft nicht aus, da braucht es Beratung durch Pflegepersonen. Es braucht Personen in den Gemeinden, die Ansprechpartner für pflegespezifische Fragestellungen sein können. Das können sogenannte Community Nurses leisten. 


Gibt es das Modell in Österreich schon?
 

Derzeit wird vor allem auf politischer Seite zwar viel davon geredet, es sind aber noch viele Fragen offen, auch was die Finanzierung betrifft. Primärversorgungszentren, die als erste Anlaufstelle im Gesundheitssystem fungieren sollten, können nur von Ärzten eingerichtet werden, obwohl das andere Berufsgruppen genauso können sollten. Meistens ist auch keine Pflegeperson im Primärversorgungszentrum vorgesehen. Laut Definition sind das keine Primärversorgungszentren, sondern nichts anderes als Gruppenpraxen. Bis 2030 braucht es Anlaufstellen für Pflegefragen, sonst wird das System kollabieren. Mit Community Nurse und Primärversorgungszentren, welche die Pflege berücksichtigen, kann man den intramuralen Bereich entlasten, die Ströme kanalisieren und zielgerichtet und nahe am Bedarf der pflegenden Angehörigen beraten. Andernfalls verzweifeln die Angehörigen, organisieren sich von irgendwoher eine 24-Stunden-Kraft oder geben den Elternteil, die Frau oder den Gatten ins Pflegeheim. Und das werden wir uns bald nicht mehr leisten können.


Ist eine vollständige Professionalisierung der Pflege, also ein kompletter Verzicht auf die Angehörigenpflege, illusorisch?

Das ist absolut unrealistisch. Es gibt 800.000 Menschen im Land, die ihre Angehörigen pflegen, davon 70 bis 80 Prozent Frauen, die älter als 69 Jahre sind. Diese pflegenden Angehörigen müssen wir schützen und entlasten, aber wir können sie nicht ersetzen. Wir müssen erkennen, dass diese Laienpflege ein Fulltime-Job ist, und sie monetär anerkennen. Hier werden große gesellschaftliche Leistungen erbracht. 


Menschliche Ressourcen sind begrenzt. Was kann der Fortschritt in der Robotik für die Pflege leisten?
 

Die Robotik sehe ich als reine Unterstützung der Pflegepersonen, sie kann die Pflege durch den Menschen nie ersetzen. Nicht einmal die Körperpflege und erst recht nicht die zwischenmenschliche Beziehung. Es werden auch nicht Pflegeroboter auf den Stationen herumfahren und menschliche Kräfte ersetzen. Dieses Szenario wird aus technischer Sicht nie realisiert werden können. Als simples Hilfsmittel kann die Robotik allerdings zukünftig sehr wohl fungieren. Mit der künstlichen Intelligenz werden wir Daten in Zukunft effizienter zusammentragen und auswerten können. Die KI kann lernen, die Daten miteinander in Beziehung zu setzen und aussagekräftig zu machen.

Interview: Marian Kröll

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