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Lagebesprechung

7.7.2023

Wir haben mit Jürgen Huber, Prof. für Finanzwirtschaft und Leiter des Instituts für Banken und Finanzen an der Uni Innsbruck, über die Themen gesprochen, die das Land, den Kontinent und die Welt in Atem halten, weil in einer globalisierten Welt(wirtschaft) nun einmal alles mit allem zusammenhängt.

eco.nova: Sie haben in den meisten Punkten unserer ökonomischen Bestandsaufnahme vom vergangenen Jahr überwiegend Recht behalten. Jürgen Huber: Na ja, die Inflation geht nicht so schnell zurück, wie ich ursprünglich gedacht hatte.
 
Wir sprachen über die drohende Stagflation, zogen Parallelen zu den 1970er-Jahren, die ein verlorenes Jahrzehnt gewesen sind. Sind wir jetzt wieder tief drinnen in diesem Szenario, droht sich die Geschichte zu wiederholen? Stagflation besteht aus Stagnation und Inflation. Die Inflation ist leider immer noch auf deutlich zu hohem Niveau gegeben. Da haben sich die meisten Ökonom*innen – übrigens auch ich –, National- und Zentralbanker und auch der Markt geirrt. Die Inflation sinkt langsamer als gedacht und in Österreich sogar noch einmal langsamer. Das liegt zu einem großen Teil an den vielen Automatismen, die bei uns greifen.
 
Sind damit die Indexierungen bzw. automatischen Preisanpassungen an die Inflation gemeint? Genau. Das betrifft Mieten, Gebühren, Versicherungsprämien, Banken und dergleichen mehr. Weil jetzt alles um rund zehn Prozent steigt, werden auch die Gewerkschaften wieder eine Lohnsteigerung in dieser Größenordnung verlangen. Jeder Arbeitgeber, der seinen Mitarbeiter*innen mehr zahlt, muss seine Preise erhöhen, und schon sind wir in der berühmten Preis-Lohn-Spirale, die in den 1970ern schon schlimm war und aus der wir auch heute sehr schwer herauskommen werden, weil dafür irgendwer verzichten muss. WIFO-Direktor Gabriel Felbermayr hat gemeint, das sollten unter anderem die Vermieter*innen sein, weil diese es sich als Immobilienbesitzer*innen leichter leisten könnten als die Mieter*innen.
 
Eine Mietpreisbremse bzw. ein -deckel stellt einen staatlichen Eingriff dar. Das ist ein Ansatz, mit dem man für sich genommen die Inflation nicht in den Griff bekommen wird, weil die Mieten mit gerade einmal fünf Prozent im Verbraucherpreisindex gewichtet sind. Was würde die Inflation stärker mildern? Der Rückgang der Energiepreise, den wir bereits gesehen haben. Erdöl-, Erdgas- und Strompreis sind heute wieder deutlich niedriger als zu Beginn der russischen Invasion. Das heißt, es gäbe massives Potenzial für Rückgänge der Inflation. Es schadet uns, dass das mit Verzögerung greift. Die Energieversorger haben die Preise erst mit Verzögerung erhöht und können nun auch die sinkenden Preise erst mit Verzögerung weitergeben, weil sie ja zu den höheren Preisen von vor ein paar Monaten einkaufen mussten.
 
Viele Stromkund*innen stehen aber erst vor einer signifikanten Preissteigerung, obwohl die Marktpreise sich wieder normalisiert haben. Deshalb reagieren die Bürger*innen auch mit sehr viel Unverständnis. Die Politik ruft den Stromversorgern – auch hier in Tirol – zu, dass diese die Preise senken müssten. Die Stromversorger haben aber am Terminmarkt teuer eingekauft und können derzeit die Preise noch kaum senken. Es stehen also noch ein paar unerfreuliche Monate an. Kernpunkt der Inflation ist aber, dass über die vergangenen 15 Jahre viel zu viel Geld geschaffen und in Umlauf gebracht wurde.
 
Gilt aus Ihrer Warte also das, was Milton Friedman gesagt hat: Inflation ist immer und überall ein monetäres Phänomen – ein Problem der zu hohen Geldmenge? Inflation hängt nicht nur von der Geldmenge ab. Als zweiten Faktor braucht es Knappheit, bei Gütern oder Arbeitskräften. Friedman hatte aber insofern Recht, als dass es ohne eine zu große Geldmenge keine Inflation geben kann. Diese notwendige Bedingung ist erfüllt: Seit 2008 wurde jede Krise mit noch mehr neuem Zentralbankgeld bekämpft. Das nannte man Quantitative Easing. Die Bilanzsumme der Europäischen Zentralbank (EZB) stieg dadurch um fast das Zehnfache.
 
Warum gab es trotzdem lange Zeit keine Inflation und zwischendurch sogar immer wieder kurze deflationäre Phasen? Schon um 2010 und 2011 herum haben sich manche Ökonom*innen darüber gewundert. Noch im Herbst 2021 hatten wir trotz massiver Ausweitung der Geldmenge in Österreich eine Deflation. Das liegt daran, dass wir keine Knappheit bei Gütern und Arbeitskräften hatten. Es gab Arbeitslosigkeit. Das hat sich mittlerweile geändert. In Europa ist die Bevölkerung stabil bzw. geht sogar leicht zurück, in China sinkt die Bevölkerungszahl, in den USA herrscht ein massiver Mangel an Arbeitskräften, weil – auch pandemiebedingt – Migrant*innen aus Lateinamerika fehlen, die vielfach als Erntehelfer*innen, Pflegekräfte und Lastwagenfahrer*innen gearbeitet hätten. Der Mangel an Arbeitskräften bei gleichzeitig unterbrochenen Lieferketten hat für eine Knappheit bei Gütern gesorgt, wie es sie vorher lange nicht mehr gegeben hat. Teilweise wurden absurd hohe Preise gezahlt und noch mehr Geld in den Markt geworfen als je zuvor. Man erinnere sich an das politische Diktum „Koste es, was es wolle“. Das hat die Wirtschaft stimuliert, wir sind ohne große Rezession und ohne Massenarbeitslosigkeit durch die Pandemie gekommen. Jetzt herrscht annähernd Vollbeschäftigung und einmal erhöhte Preise – gerade in der Gastronomie waren die Preissteigerungen enorm – bleiben hoch. Würden wir aus irgendeinem Grund plötzlich auf null Prozent Inflation kommen, heißt das nicht, dass irgendetwas billiger werden würde.
 
Da herrscht ein Missverständnis, weil das nur bedeuten würde, dass der Preisanstieg zum Erliegen gekommen ist. So ist es. Manche Preise werden nie wieder sinken, wieder andere – etwa die Energiepreise – dagegen schon.
 
Es hat also das Zusammentreffen zweier Umstände, zu viel Geld im System und plötzliche Güterknappheit, zur derzeit sehr hohen Inflationsrate geführt? Ja. Zu einem Stagflationsszenario gehört aber auch noch die Stagnation. Und da bin ich bezüglich der weiteren wirtschaftlichen Aussichten nicht so pessimistisch.
 
Woher soll das Wirtschaftswachstum kommen? Wachstum kann von einem Bevölkerungswachstum herrühren, von neuen Rohstoffvorkommen oder aber vom technologischen Fortschritt. Letzterer liefert sehr viel Wachstumspotenzial. Das ist dann Produktivitätszuwachs? Genau darum geht es. Wir wollen nicht unbedingt quantitativ mehr, sondern bessere Qualitäten. Da gibt es – unter anderem durch KI, aber auch durch die erneuerbare Energiewende – beträchtliche Wachstums-
chancen. Dank unserer Geografie haben wir in Österreich große Chancen, in Erzeugung, Transport und Speicherung von Strom zu wachsen. Ist Europa klug genug, seine Wachstumschancen zu nutzen, ist nicht von einer Stagnation auszugehen.
 
Wie schätzen Sie vor dem Hintergrund, dass wir produktiver werden und besser mit unseren endlichen Ressourcen umgehen müssen, das Potenzial der Kreislaufwirtschaft ein? Kreislaufwirtschaft ist absolut sinnvoll. Ihr Kernpunkt ist es, möglichst wenig Ressourcen zu verbrauchen und möglichst viel zu recyceln. Wir leben auf einem begrenzten Planeten und alles, was unwiederbringlich verloren ist, wird zukünftigen Generationen fehlen. Langfristig können wir nur sustainable wirtschaften und nicht immer mehr verbrauchen als wir haben. Das Konzept der Nachhaltigkeit ist ja nicht neu. Das Problem ist, dass wir zurzeit global gesehen zwischen drei und fünf Erden verbrauchen. Diesen massiven Überkonsum müssen wir in den Griff kriegen. Das spart Geld und Ressourcen und ist das Einzige, was den Klimawandel bremsen kann, und letztlich ist es auch die billigste Variante. Eine Welt mit Klimaextremen ist eine weniger lebenswerte Welt.
 
Eine radikale Hinwendung zu einer Kreislaufwirtschaft würde womöglich kurzfristig die Wettbewerbsfähigkeit des Landes beeinträchtigen, mittel- und langfristig durch das erhebliche Spar- und Innovationspotenzial aber von Vorteil sein? Genau so ist es. Nehmen wir den Energiesektor: Österreich ist seit vielen Jahren von Energieimporten – Gas, Kohle, Öl – abhängig. Im langjährigen Schnitt haben wir dafür zwölf Milliarden Euro pro Jahr ausgegeben. Im letzten Jahr waren es 24 Milliarden oder sechs Prozent unserer Wirtschaftsleistung, damit wir von irgendwelchen Autokraten und Diktatoren die Energie importieren und klimaschädigend in die Luft blasen können. Baute man stattdessen Photovoltaik, Windkraft und Wasserkraft aus, entstehen einmalige Kosten, mit denen für Jahrzehnte billiger Strom hergestellt werden kann. So sollten wir wirtschaften, in der Energie und in anderen Bereichen.
 
Der Umbau des Energiesystems hat Fahrt aufgenommen. Ja, und er ist eine Chance für Europa, das einst führend in der Produktion von Solaranlagen war. Heute wird meist aus China importiert – aber es ist immer noch besser, einmal eine PV-Anlage aus China zu kaufen, die uns dann jahrzehntelang Strom liefert, als jedes Jahr Erdgas aus Russland zu beziehen.
 
Alle unsere Zukunftstechnologien sind auf die Verfügbarkeit von Halbleitern angewiesen. Kann es sich Europa dauerhaft leisten, kein konkurrenzfähiger Player in der Chipherstellung zu sein? Auch hier hat Europa in der Vergangenheit eine Chance vertan. Europa war führend bei der Photovoltaik und bei der Mobilfunktechnologie und ist weit zurückgefallen. Europa hatte auch führende Chiphersteller und hat sich abhängen lassen. 2008 waren die Börsenwerte europäischer Unternehmen gleich hoch wie jene US-amerikanischer, heute nur noch ein Fünftel. Wir haben ökonomisch leider viele Chancen ausgelassen. Strom und Gas kosten in Europa heute viermal so viel wie in den USA. Dort macht Energie eineinhalb Prozent der Kosten einer Industrie aus, bei uns sechs. Das ist verheerend für die Profitabilität. Im Chip War ist Europa ein Nebenschauplatz. Die USA sind führend, wollen China nicht aufholen lassen und den Chinesen die fortgeschrittensten Herstellungstechnologien vorenthalten. Die USA haben auch kein Interesse daran, dass Europa darin wahnsinnig gut ist. Mit ASLM sitzt in den Niederlanden der wichtigste und weltweit größte Anbieter von Lithographiesystemen für die Halbleiterindustrie. Diese Spitzenposition muss verteidigt werden und zusätzlich müssen wir Chiphersteller nach Europa bringen. Dafür werden auch Subventionen notwendig sein, weil die USA und China die Chipindustrie ebenfalls sehr stark subventionieren. Wenn wir mehr sein wollen als das Museum der Welt, müssen wir in der Chipherstellung dabei sein. Protektionismus ist dafür aber nicht der richtige Weg. Bis zu den beiden Weltkriegen war Europa in allen Zukunftstechnologien führend. Wir können das wieder werden.
 
In der globalen Ökonomie hängt nun einmal alles mit allem zusammen. Doch zurück zur Inflation: Sehen wir tatsächlich eine Lohn-Preis-Spirale oder ist es nicht vielmehr so, dass Unternehmen massive Übergewinne einfahren, ganz einfach deshalb, weil sie es können? Was halten Sie in diesem Zusammenhang vom Konzept der Greedflation, das als Erklärungsansatz für die hohe Inflation an Bedeutung gewinnt? Die Inflation ist in Österreich deutlich höher als im Durchschnitt des Euroraums. Der Hauptgrund ist, dass unsere Regierung viel mehr Geld mit der Gießkanne ausgeschüttet hat als andere Länder. Das muss endlich aufhören! Greedflation, also die Angewohnheit, aus Gier die Preise maximal zu erhöhen, sehe ich in meiner Wahrnehmung sehr wohl, auch wenn es bei uns noch keine belastbaren Zahlen gibt. Vor allem in der Gastronomie kann man das im täglichen Leben beobachten. Ich habe unlängst ein Stück Kuchen um 6,40 Euro gesehen und geglaubt, ich sehe nicht richtig. Dort ist die Greedflation salient, aber es ist auch in anderen Bereichen manches deutlich teurer geworden, als es hätte werden müssen. Der Mensch ist ein von Gier getriebenes Wesen, mehr ist besser.
 
Die Regierung argumentiert stets, dass es das Ziel gewesen sei, die Kaufkraft der Österreicher zu erhalten. Ist das kontraproduktiv? Das ist völlig kontraproduktiv, wenn man die Inflation bekämpfen will. Man kann nicht jedem alle Mehrkosten ersetzen.
 
Um die Inflationsspirale zu durchbrechen, muss folglich der Kaufkraftverlust von Frau und Herr Österreicher tatsächlich realisiert werden? Leider – nicht für jeden im vollen Ausmaß, aber doch für die meisten in einem hohen Maß. Die Gießkanne gehört weg, dann kann man mit überschaubaren Mitteln die ärmeren Bevölkerungsgruppen gezielt schützen.
 
Die Menschen dürften nach der Pandemie und den damit verbundenen Entbehrungen ungewöhnlich preisunsensibel und bereit sein, für viele Dinge mehr Geld auszugeben als unter normalen Umständen? Im Nachholkonsum sehen wir tatsächlich eine beträchtliche Preisinsensitivität. Die Leute sagen: „Es ist teuer geworden, ich tu’s aber trotzdem.“ Für den Durchschnittshaushalt haben die Mehrkosten 2022 rund 3.500 Euro betragen. Das ist viel Geld, aber 75 Prozent dieser Mehrkosten wurden durch verschiedene Antiteuerungsmaßnahmen und Lohnerhöhungen ausgeglichen. Das Geld sitzt wohl auch deshalb relativ locker, weil man es aufgrund der Inflation besser früher ausgibt als später, wenn es nicht mehr so viel wert ist. Alles ist ausgebucht, der Tourismus boomt, der Konsum läuft. Das gilt allerdings nicht für die Bauwirtschaft, die momentan eine Vollbremsung hinlegt.
 
Was halten Sie von Staatseingriffen, wie etwa ein Mietpreisdeckel einer sein könnte? Grundsätzlich würde ich bei harten Staatseingriffen zur Vorsicht raten. Es gibt nämlich nicht nur ein Markt-, sondern auch ein Staatsversagen. Die Mehrwertsteuer würde ich zum Beispiel nicht senken, weil diese sich nur schwer wieder erhöhen lässt und dem Staat dadurch Geld fehlt. Außerdem kommt diese Senkung vermutlich nicht bei den Konsument*innen an. Der Staat sollte die Indexierung der eigenen Gebühren vorübergehend aussetzen. Das könnte ein sinnvoller Beitrag zur Inflationssenkung sein, den sich der Staat auch leisten kann. Größere Interventionen halte ich für nicht zielführend. Da ist auch die Weisheit unserer Staatslenker nicht als allzu hoch einzuschätzen.
 
Der Lebensmittelhandel steht seit geraumer Zeit im Fokus der Kritik. Die Marktsituation ist bekannt, wenige, mächtige Player teilen sich in Österreich den Markt untereinander auf, es gibt wenig Wettbewerb. Ist der heimische Lebensmittelhandel nicht ein Fall für die Wettbewerbsbehörde? Vermutlich ja. Generell ist der Wettbewerb in Österreich in manchen Bereichen sehr gering. Der Verdacht liegt nahe, dass der Wettbewerb im Lebensmittelhandel nicht gut funktioniert. Mehr Kontrolle ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig.
 
Schauen wir uns die Zinslandschaft an: Es gibt die These, dass die EZB mit ihrem Zinskurs auf eine Rezession hinarbeitet, um den Preisauftrieb in den Griff zu bekommen. Plausibel? Die Stagflation der 1970er-Jahre wurde erst durch extrem hohe Zinsen zu Beginn der 1980er-Jahre gebrochen. Der Leitzins in den USA lag damals bei 17 Prozent, jener der europäischen Zentralbanken über zehn Prozent. Das führte zu einer kurzen Rezession, die Inflation war danach aber jahrzehntelang stabil niedrig. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass man auch diesmal wieder eine kurze Rezession brauchen wird, um die Inflation in den Griff zu bekommen. Technisch gesehen ist Europa bereits in der Rezession, eine gewisse Abbremsung der Wirtschaft ist vertret- und auch verkraftbar, denn wir müssen die Inflation einfangen, weil uns eine dauerhaft hohe Inflation zur Weichwährungsregion machen würde, und die haben immer schlecht performt.
 
Das rasante Zinserhöhungstempo der EZB halten Sie folglich – wenn auch nach einem verspäteten Start – für richtig? Ja. Die Leitzinserhöhung begann zu spät, im Nachhinein lässt es sich allerdings leicht reden. Fast alle haben die Inflationsentwicklung falsch eingeschätzt, weil sie von Jahrzehnten niedriger Inflation eingelullt waren. Die russische Invasion war der Brandbeschleuniger für die Inflation. Aktuell hat Österreich eine deutlich höhere Inflation als der Rest der Eurozone – das ist gefährlich, denn dadurch verliert der Wirtschaftsstandort an Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität. Die Löhne steigen schneller und mit ihnen die Lohnstückkosten. Das hat zur Euro-Schuldenkrise 2010 beigetragen, von der vor allem Griechenland, Spanien und Italien betroffen waren. Diese Länder hatten zwischen 2000 und 2010 einen höheren Anstieg von Inflation und Lohnstückkosten als der Norden und in der Folge riesige Probleme. Diese Entwicklung droht sich nun in Österreich zu wiederholen. Deshalb müssen wir schauen, dass wir zügig gegensteuern, sonst werden sich unsere Unternehmen im Wettbewerb unglaublich schwertun.
 
Das Inflationsziel von zwei Prozent ist eine beliebige Erfindung. Gibt es wissenschaftliche Anhaltspunkte dafür, dass das der Sweet Spot sein könnte, oder könnte man nicht genauso ein Ziel von drei oder vier Prozent ins Auge fassen? Dieses Ziel trägt man wie eine Monstranz vor sich her. Es ist tatsächlich willkürlich festgelegt und variiert auch zwischen den Ländern. Brasilien hat sich etwa ein Ziel von fünf Prozent gesetzt. Historisch betrachtet hatte man lange Zeit das Ziel verfolgt, überhaupt keine Inflation zu haben. Zwei Prozent hat man deshalb festgelegt, weil man die Aufbewahrung von Geld nicht belohnen und den Konsum stimulieren wollte. Die Frage, ob das in einer Welt, die an Überkonsum leidet, überhaupt klug ist, liegt nahe. Was die EZB nicht sagt, ist, dass Inflation den verschuldeten Staaten dabei hilft, sich zu entschulden.
 
Was bedeutet die gegenwärtige Hochinflationsphase für die Staatsverschuldung? Fed und EZB dürften vermutlich auch verspätet auf die Inflation reagiert haben, weil sie für die hochverschuldeten Staaten positiv ist, weil die Schulden zu einem gewissen Grad entwertet werden. Für die Staatsfinanzen ist zumindest kurzfristig eine hohe Inflation vorteilhaft.
 
Ja, aber … Wenn es um die Refinanzierung der Schulden geht, sieht die Sache schnell anders aus. So ist es. Die hohe Inflation ist nur vorübergehend positiv, sobald die Schulden zu wesentlich höheren Zinsen refinanziert werden müssen, kehrt sich der Effekt ins Negative um. Staaten, die sich zu null Prozent auf zehn Jahre verschuldet haben, müssen plötzlich vier, fünf, sechs Prozent Zinsen bezahlen. Das wird richtig teuer.
 
Die EZB hat für den Notfall mit TPI ein Instrument erfunden, mit dem die Zinsspreads zwischen fiskalischen Musterschülern wie Deutschland und dem hoch verschuldeten Italien künstlich verringert werden sollen. Italien dürfte wohl früher oder später in den Genuss dieser Regelung kommen. Halten Sie das für legitim? Die Ungleichgewichte in der Eurozone sind immer noch erheblich. Ich halte diesen Eingriff der EZB für legitim, weil er wahrscheinlich der billigere und pragmatischere Weg ist, als die Refinanzierungskosten einzelner Länder aus dem Ruder laufen zu lassen und eine große Schuldenkrise heraufzubeschwören. Der Euroraum ist immer noch eine unvollständige Währungsunion, weil es keine Fiskalunion gibt. Daher braucht es andere Instrumente und Ventile, um Überdruck abzubauen. Der Euro ist faktisch für jedes Land eine Art Fremdwährung, weil kein einzelner Staat die Geldmenge selbst steuern kann. Der Euro ist nach wie vor ein Experiment, das bislang erstaunlich gut funktioniert hat.
 
Decken unsere globalen „Geldprobleme“ nicht grundlegendere, realere Probleme zu, die Grenzen des Wachstums, ökologischer Kollaps, Überkonsum, Verschmutzung, Klimawandel? Wie würde eine „ideale“ globale Ökonomie auf diese Herausforderungen reagieren? Die ökonomische Wissenschaft ist in einer besonderen Phase der Menschheit groß geworden, in einer Phase der Industrialisierung, des exponentiellen Wachstums. Wir kommen jetzt in ein anderes Szenario hinein, haben in vielerlei Hinsicht ein Plateau erreicht. Dafür braucht es vielleicht neue Modelle. Spätestens seit dem ersten Bericht des Club of Rome sollte das klar geworden sein.
 
Das heißt, wir bewegen uns in einem Paradigma, das die tatsächlichen Beschränkungen völlig außer Acht lässt? Ja. Viele reden weiter von endlosem Wachstum. Das kann es auf einem begrenzten Planeten nicht geben. Wir müssen tatsächlich umdenken, brauchen Degrowth-Szenarien, Kreislaufwirtschaft und müssen auch über Gemeinwohl-Ökonomie nachdenken und die Frage in den Mittelpunkt stellen, wie wir als Gesellschaft nachhaltig, gesund und gut leben können. Große Konflikte kommen auf die Welt zu, deshalb sollten wir danach trachten, uns so weit als möglich von anderen Weltgegenden unabhängiger zu machen. Nicht im Sinne einer dummen Autarkie – es wäre sinnlos, wenn wir anfangen würden, Ana-
nas anzubauen –, sondern als krisensichere Selbstversorgung dort, wo es essentiell und sinnvoll ist. Das schont auch den Planeten.
 
Sie haben das Wort Degrowth in den Mund genommen, das bei vielen Ökonomen wie Politikern noch für Unbehagen sorgen dürfte. Wie kann Derartiges funktionieren? Die reichen Industrienationen leben auf einem Konsumniveau, das nicht für acht Milliarden Menschen umsetzbar wäre. Wir müssen uns überlegen, wie wir langfristig ein Wohlstandsniveau sichern können, das für die gesamte Weltbevölkerung erreichbar ist. Das heißt nicht, dass es uns schlechter gehen muss, sondern nur, dass bewusster konsumiert werden muss – Qualität vor Quantität. Die Menschheit hat diese Möglichkeiten grundsätzlich, ob sie klug genug ist, sie zu nutzen, darf bezweifelt werden. Würden wir von einem wohlwollenden Diktator regiert, würde sich der Klimawandel relativ schnell in den Griff bekommen lassen, denn die Technologien existieren bereits. Aber wir haben stattdessen eine Great Power Rivalry und eine zunehmende Instabilität.
 
Degrowth muss als Konzept seinen Schrecken verlieren, ohne den Menschen Sand in die Augen zu streuen. Der technische Fortschritt allein wird’s nicht richten können. Weitermachen wie bisher geht sich nicht aus. Binnen drei Jahrhunderten haben wir so viele fossile Rohstoffe verbrannt, wie auf der Erde binnen dreihundert Millionen Jahren entstanden sind.
 
Ganz grundsätzlich ist alles Leben und Wirtschaften auf diesem Planeten eine Frage der Energie und der Thermodynamik. Wie nahe ist die Ökonomie an der Physik dran, deren Gesetzmäßigkeiten den Rahmen des Möglichen für alles Ökonomische definieren? Wenn man es ideengeschichtlich betrachtet, wahrscheinlich nicht nahe genug. Die Ursprünge der Ökonomie liegen eher in der Biologie, und zwar im Blutkreislauf, der für die wirtschaftlichen Kreisläufe Pate stand. Wir können als Menschheit auf lange Sicht aber nur mit der Energie wirtschaften, die wir nachhaltig herstellen können, ohne dem Planeten zu schaden. Nur dann kriegen wir als Menschheit noch die Kurve.
 
„Humans doing the hard jobs on minimum wage while the robots write poetry and paint is not the future I wanted“, bemerkte via Twitter der Architekt und Satiriker Karl Sharro. Was ist aus heutiger Sicht von der Entwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) zu erwarten? Es gibt das apokalyptische Szenario à la Terminator oder Matrix, dass die KI uns ablöst oder versklavt. Daran will ich gar nicht denken. KI kann ein enorm nützlicher Helfer sein, ein Werkzeug unter anderen. Wir gehen nicht zu Fuß von Innsbruck nach Wien, sondern fahren mit dem Zug. Wir graben Tunnel nicht per Hand, sondern mit riesigen Maschinen. Über lange Zeit haben wir uns körperliche Prozesse abnehmen lassen, KI ist eine Möglichkeit zur Verstärkung unserer geistigen Kräfte. KI kann uns Routinearbeiten abnehmen, etwa in der Buchhaltung oder Programmierung. Das macht uns nicht etwa überflüssig, sondern produktiver. Damit sollte dem Menschen zukünftig mehr Zeit bleiben, um wirklich kreativ zu sein.  

Interview & Fotos: Marian Kröll
 

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