Rattenberg ist mit 0,11 Quadratkilometern, also elf Hektar, die kleinste Stadt Tirols – und auch eine der ältesten. Tatsächlich erhielt Rattenberg bereits 1393 das Stadtrecht von Herzog Stefan III. verliehen. Wurden die Fassaden der historischen Altstadt dabei immer instand gehalten, so sah es dahinter nicht immer so aus. Anfang der 2000er-Jahre war Rattenberg fast vom Aussterben bedroht, viele leerstehende Wohnungen waren in teils desolatem Zustand. Die untertags von Tourist*innen rege frequentierte Stadt lief Gefahr, zur reinen Kulisse zu verkommen. Daran war die Politik nicht ganz unschuldig, hatte man jungen Familien und Kindern von Ratterberg im Osten der Stadt doch günstige Baugründe zur Verfügung gestellt, was für diese zwar schön, die Stadt allerdings suboptimal war. Unterm Strich hat sich dies als Bumerang für Rattenberg herausgestellt, weil der Stadt schlicht die Einwohner abhandenkamen. So war Rattenberg zwar attraktiv für Besucher*innen, doch es fehlten die Leute – und zwar jene, die die Stadt zwischen den touristischen Stoßzeiten belebten. 2003 lenkte der damalige und mittlerweile leider verstorbene Bürgermeister Franz Wurzenrainer dagegen, schrieb ein Stadtentwicklungskonzept aus und initiierte einen Bürger*innenbeteiligungsprozess, um abzufragen, was Rattenberg brauche, um wieder lebenswert zu werden. Ein kluger Schachzug.
Maßgeblich an diesem Prozess beteiligt war der Rattenberger Architekt Josef Wurzer, der in Gerhard Rainalter dafür einen kongenialen Partner fand. Beide kannten sich aus der Vergangenheit und trafen Jahre später für dieses ganz besondere Projekt wieder aufeinander – Wurzer als Architekt und Projektentwickler, Rainalter als Marketer und Moderator. Aus einer kreativ-spannenden Gemengelage wurde die Zukunftsperspektive Rattenberg. Viele regionale Protagonist*innen brachten sich aktiv ein und setzten sich intensiv damit auseinander, woran es der Stadt fehlt und wo die Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung liegen. Daraus ergaben sich unterschiedliche Themenschwerpunkte. „Die Sitzungen waren insofern spannend, als dass die Begeisterung sehr hoch war und die Identifizierung mit der Aufgabe von allen Beteiligten sehr ernst genommen wurde. Das war echt gewaltig“, blickt Wurzer zurück. „Auf diese Weise hatten die Leute das Gefühl, es sei IHR Projekt. Wir haben die Kompetenzen aus Politik, Wirtschaft, Architektur und dem Rechtsbereich gebündelt, doch das Wichtigste war, dass die Bevölkerung mitgemacht hat. Ein solches Projekt ohne die Zustimmung der Leute umsetzen zu wollen, ist unsinnig.“
Große Projekte für eine kleine Stadt
Auf der Wunschliste der Rattenberger stand folglich der Zuzug neuer Bürger*innen und Unternehmen ganz oben. Dazu kam die Bitte nach einem Veranstaltungsbereich, die Ansiedelung gehobener Gastronomie und Hotellerie sowie Qualitäts- anstelle von Massentourismus. „Da blieb natürlich einiges beim Wunsch, doch Verbesserungsmöglichkeiten gibt es überall“, sagt Wurzer. Auch ein Lift auf den Schlossberg stand auf der Agenda. In verschiedenen Arbeitsgruppen zu den Bereichen Wohnen, Arbeit, Kultur und Tourismus entstanden entsprechende Konzepte, die fleißig nach außen kommuniziert wurden. Wurzer erinnert sich: „Zu einer Gemeindeveranstaltung fanden sich an die 80 Leute im Schulsaal ein. Das klingt nach nicht sonderlich viel, aber bei einer damaligen Einwohnerzahl von 350 ist das ein unvorstellbarer Erfolg und ein gewaltiges Commitment.“ Die Bürger*innen wurden stets am Laufenden gehalten, auch die Presse hat das Projekt mit Interesse verfolgt und begleitet. Das Entscheidende jedoch sei gewesen, dass man laufend Kontakt zur Tiroler Landesregierung gehalten habe, ist Wurzer überzeugt. Das führte in der Folge dazu, dass zu aller fachlichen Unterstützung für die ersten beiden konkreten Umsetzungsschritte 1,7 Millionen Euro aus dem Gemeindeausgleichsfonds lukriert werden konnten und zusätzliche 340.000 Euro aus der Revitalisierungsförderung. „Für eine Weiterentwicklung braucht es Konzepte, die umgesetzt werden und die nicht in der Schublade verschwinden. Um wirklich unabhängig zu sein und Projekte voranzutreiben, haben wir beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen“, erzählt Wurzer, der mit dem Juristen Alfred Schmidt hierfür einen weiteren kongenialen Partner gefunden hat. Für den Erneuerungsprozess wurde schließlich die Stadtentwicklung Rattenberg GmbH gegründet, in der neben den beiden Initiatoren Josef Wurzer und Gerhard Rainalter auch Vertreter*innen aus der Wirtschaft, die Stadt Rattenberg und die Sparkassenstiftung mit dabei sind. Eine runde Sache also. Auch die Bevölkerung hätte sich beteiligen können. „In Rattenberg ist es anders als anderswo“, sagt der architektonische Mastermind: „In Rattenberg mit seinen 100 Häusern hat jedes einzelne davon großes Gewicht und es ist entscheidend, wie die Häuser saniert bzw. auch mit neuen Inhalten belegt werden. Anfangs waren externe Investoren jedenfalls rar. Allein der Prozess, der vor der konkreten Umsetzung stattgefunden hat, hat gezeigt, wie sehr es die Stadt notwendig hat, Attraktivität zu erzeugen – um auch bestehende Attraktivitäten längerfristig erhalten zu können.“
So wurden zu Beginn mit dem Ensemble Malerwinkel/alte Turnhalle und dem ehemaligen Gasthof Post zwei Gebäude erworben und revitalisiert, die von den Architekten Wurzer Nagel sorgsam und unter Berücksichtigung der langen Historie zu einem Seminar- und Veranstaltungszentrum bzw. Wohnungen und Büros umgebaut wurden. „Das Areal der Post ist rund 1.200 Quadratmeter groß, der Malerwinkel 1.500. Hier können wir die Agenden und Wünsche der Bevölkerung bereits zu einem Gutteil umsetzen“, so Wurzer, der im Post-Gebäude selbst wohnt und arbeitet. Außerdem ist dort ein Maklerbüro untergebracht, ein Zahnarzt, zwei Tops mit weiteren Architekten und Wohnungen: „Die alte Post ist ein Vorzeigemodell, wie sich ein leerstehendes Stadthaus, das seine Funktion als ehemaliges Gasthaus verloren hat, ins Heute transferieren lässt. Die Grundstruktur und die Fassade sind mit Ausnahme von westseitigen Balkonen gleich geblieben, das Innere wurde modernisiert und schafft damit einen unglaublichen Mehrwert.“
Quasi zeitgleich hat man sich des Malerwinkels angenommen, aus dem unter anderem ein Veranstaltungszentrum wurde. Im unteren Bereich entstand hochwertige Gastronomie, „damit sind wir gleich zu Beginn einem Wunsch der Bevölkerung nachgekommen“, im oberen Bereich ist das Gemeindeamt untergebracht. „Was wir außerdem geschafft haben, ist den Punkt umzusetzen, einen Lift zum Schlossberg zu bauen“, erklärt Wurzer. Ganz so einfach war das nicht, doch selbst der Glaslift ließ sich in Einklang mit dem Bundesdenkmalamt umsetzen. Einen Lift hätte es ob der barrierefreien Erschließung des Ensembles ohnehin gebraucht, also hat man diesen außen auf die öffentlich zugängliche Dachterrasse geführt. Von dort aus geht eine Brücke fast geradeaus zum Schlossberg. Durch den öffentlichen Mehrwert des Lifts gab das Denkmalamt grünes Licht. „Dass wir aus den Projekten keine gewaltigen Profite machen werden, war uns allen bewusst“, ist Wurzer reflektiert. „Jeder Einzelne von uns war motiviert, die Stadt vorwärtszubringen. Aus einer Idee im inneren entstand ein Feuer im außen.“
Im Jahr 2007/08 war der erste Schritt in Sachen Zukunftsperspektive abgeschlossen. „Wir haben nicht gewusst, wohin uns die Reise führt, doch es ist unglaublich schön zu sehen, dass Eigeninitiative als Motor für die Zukunft Stadt funktioniert hat“, so Wurzer. Sein Architekturbüro hat wesentlich zur Erhaltung und der modernen Nutzung des architektonischen Erbes von Rattenberg beigetragen. In dessen Sog investierten indes auch viele Privatpersonen in ihre Immobilien. Auch das ist ein gutes Stück der Zukunftsperspektive zu verdanken, die durch ihre Initiative die Revitalisierungsförderung nach Rattenberg gebracht hat, eine hochdotierte Förderung des Landes, die dem jeweiligen Eigentümer zugeschrieben wird und heute noch unter bestimmten Voraussetzungen abgerufen werden kann, wenn man Leerstände mobilisiert. Fängt einer an, ziehen andere nach.
Nahezu unverhunzt
Bis heute konnten in dem seit 2013 unter Ensembleschutz stehenden historischen Kern viele weitere Häuser einer neuen Verwendung zugeführt werden. Auch die Kirche hat sich in den Reigen der Werterhalter eingebracht und ihr altes gotisches Mesnerhaus revitalisiert. Die positive Entschlossenheit der Bauherrin, eine Baudokumentation, die die 700-jährige Braugeschichte des Mesnerhauses hervorhob und ein ambitioniertes Zusammenspiel von Architektur, Statik, Denkmalschutz und Bandverhütung machen aus dem Gebäude ein benutzbares bauhistorisches Juwel. Das frühere Wohnhaus wurde behutsam für die neuen Funktionen als Pfarrkanzlei samt Pfarrsaal und Mehrzweckraum für Jugend und Chor sowie kleinere vermietbare Flächen adaptiert. Gerade ist eine Wohnung für den Pfarrer im Entstehen. „Das Mesnerhaus war ein nahezu unverhunztes gotisches Gebäude. Das haben wir bewusst so gelassen“, erklärt Wurzer. „Wenn man hineingeht, hat man das Gefühl, man tritt in die Vergangenheit. Jedes Mal wieder ist es eine kleine Zeitreise. Man geht hinein und lässt die Atmosphäre einfach auf sich wirken.“ Ein gelungenes Beispiel des Prozesses ist außerdem das Boutiquehotel Rattenberg von Martin Partoll, ebenfalls begleitet von Wurzer Nagel. Mit viel Respekt vor der bedeutsamen Vergangenheit hat man bei der Revitalisierung das Hauptaugenmerk auf die Erhaltung der historischen Strukturen gelegt. In aufwändiger Arbeit wurden alte Steinmauern, Wandmalereien, gotische Holzbalkendecken und Kreuzgewölbe sowie andere wertvolle Relikte aus vergangenen Zeiten stil- und materialgerecht wiederhergestellt. Außerdem wurde das ehemalige Gasthaus Traube in ein Gästehaus verwandelt, das demnächst eröffnen wird. „Ein wesentlicher Beitrag für die Stadt“, findet Wurzer.
Bereits geöffnet ist das jüngste Werk von Wurzer Nagel. Aus dem ehemaligen Rathaus, dem ersten Gebäude auf der linken Seite von Westen kommend, wurde das Winklers Cuisine von Spitzenkoch Christian Winkler und seiner Frau Sigrid. Im unteren Bereich befindet sich eine lässige Tagesbar (kosten Sie unbedingt einen der Kuchen aus der Vitrine oder die großartige Currywurst mit getrüffelten Pommes frites!), im oberen Bereich ist der Chef’s Table zu Hause. Zum Sommer ist unter den Kastanien ein Biergarten geplant, der als neues westliches Entree in die Stadt fungieren soll. Zur Zeit wird außerdem die Sparkasse Rattenberg umgebaut und erfindet sich auf 1.500 Quadratmetern neu, vor einiger Zeit wurde die Schule im Ort erweitert und zu einer Neuen Mittelschule ausgebaut. Entstanden ist ein modernes Gebäude aus Beton – ebenfalls in Abstimmung mit dem Denkmalamt und als sichtbares Zeichen, dass auch in alten Städten moderne Architektur neue Impulse setzen kann. „Der Ensembleschutz zeigt die Wertschätzung gegenüber dem Alten, ignoriert jedoch nicht das Neue“, sagt Wurzer. Rattenberg zeigt, wie es gehen kann: „Urbaner Wandel durch Engagement, durchdachte Nutzungskonzepte, verbunden mit qualitätsvoller Architektur sind die Voraussetzung für lebenswerte Orte, die von Einheimischen und Besuchern gerne angenommen werden. Das war das Ziel des Prozesses und soll es auch weiterhin sein“, beschreibt Wurzer, der in der Stadt noch viel vorhat. Im Moment beschäftigt er sich mit einem innovativen Energiekonzept, das derzeit zwar auf Eis liegt, von ihm aber nicht aufgegeben werden will. „Wir schwimmen auf bis zu 40 Meter dickem Grundwasser. Was liegt da näher, als hinunterzubohren und es für die ganze Stadt zu nutzen. Konzepte gibt es bereits. Es wäre ein Leuchtturmprojekt für Tirol und darüber hinaus, eine mittelalterliche Stadt mit klimaneutraler Energie zu versorgen, deren Quelle so unmittelbar nahe liegt“, gibt er einen Einblick. Vielleicht ist irgendwann die Zeit dafür.
Text: Marina Bernardi